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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 1. Jahrgang 1904/05

D er Zug vom Land nach der 
Stadt, der das offene Land 
entvölkert und in den 
Städten die traurigen Er^ 
scheinungen der Übervölkerung und 
Verelendung gezeitigt, hat eine 
entgegengesetzte Bewegung hervor^ 
gerufen. Der beginnende Auszug 
von der Stadt nach dem Lande 
ist mancherorts mit allen inneren 
und äußeren Anzeichen sozialer 
Gesundung wahrzunehmen. Eine Anzahl von Industrien in 
Amerika, England, Holland und Deutschland haben damit 
begonnen, ihren Betrieb von der Stadt aufs offene Land zu 
verlegen, ihre Arbeiterschaft aus den Hundelöchern der 
großstädtischen Arbeiterbezirke, wo sich die gewissenlose 
BodemWohnungs-- und Lebensmittelspekulation an ihnen 
mästete, herauszuführen und nach künstlerischen, sozialen 
und hygienischen Gesichtspunkten neue Gemeindewesen zu 
schaffen, die nur Einzelwohnhäuser in Verbindung mit aller 
Behaglichkeit und allen modernen Komforts enthalten. 
Eine interessante Enquete hat ergeben, daß die Zahl der von 
den Besitzern allein bewohnten Häuser in demselben Maße 
abnimmt, als die Stadt an Einwohnerzahl zunimmt. Ein paar 
vielsagende Ziffern drücken in Prozenten aus, wieviel Einzel- 
Wohnhäuser durchschnittlich auf eine Stadt kommen: 
Städte wie Paris, Wien, Berlin zirka 15 0 / 0 
Städte von mehr als 100.000 Einwohnern „ i9’7 0 / 0 
t, „ ,, 50*000 ,, „ 26*7 °/o 
» n tt n 10.000 „ „ 3**3 °/o 
„ _ „ weniger „ 2.000 „ „ 63-8 °/ 0 
Es wird ohneweiters klar, daß die emporschnellenden Grund 
preise das Heimwesen und die Cottagebildung für minderbe 
mittelte Klassen unerschwinglich machen, und im Verein 
mit der gleichen Schritt haltenden sonstigen Teuerung den 
wenig anmutigen Typus moderner Großstädte geschaffen 
haben. 
Die ersten Arbeiterkolonien, die vor Jahrzehnten gegründet 
wurden, sind als Humanitätsakte entstanden, ohne daß 
der Menschlichkeit oder der Gerechtigkeit ein erheblicher 
Dienst geleistet worden wäre, denn in der Regel sind es 
dürftige Bauschablonen von peinigender Ode und Trost 
losigkeit, die der Schönheit des Landes ebensosehr Ab 
bruch tun, wie vielleicht der Lebensfreude der Menschen, 
die darin zu wohnen verurteilt sind. 
Die Arbeiterhäuser und Arbeiterkolonien gewannen sozial 
politische Bedeutung erst von dem Momente an, da der 
KÜNSTLER sich mit ihrer formalen Lösung befaßte. Der 
Künstler übte den Akt menschlicher Gerechtigkeit, indem 
er dem Menschen oder der Familie gab, was sie nach dem 
Stande der modernen Kultur brauchte. Er brach mit der 
Schablone und machte die Individualität frei. Er gestaltete 
das Haus nach den Bedürfnissen der Familie, gab ihnen in 
formaler Beziehung die Möglichkeit zur ungehinderten Ent 
wicklung und Betätigung, gab dem Hause die natürliche 
Schönheit im Anschluß an die heimatliche Bauweise und 
den Seelen, die es bewohnten, den Stolz und die Freude, 
Gutes Beispiel: Arbeiterhäuser im englischen Fabriksort Port Sunlight. 
die solche Schönheit gewährt, er versah sie mit allen mo 
dernen hygienischen und praktischen Einrichtungen, die das 
Leben leicht und behaglich machen und das Gefühl der Ar 
mut und Entbehrung ausschließen. Der soziale Ausgleich 
wird in dieser Verallgemeinerung der Lebensgüter perfekt, 
und der Luxus mag sich fortan nur in der Verwendung 
kostbareren Materials manifestieren, keineswegs aber in der 
einseitigen und ungerechten Beherrschung der Mittel, die das 
Leben zu seiner Vollkommenheit und seinem Glück 
nötig hat. 
Das erste und beste praktische Beispiel dieser Art bildet das 
bei Liverpool liegende Fabriksdorf Port Sunlight. Mister W. H. 
Lever, der Besitzer der Sunlightseifenfabrik, berief den Künstler 
zum Bau der Arbeiterkolonie, die gewissermaßen als voll 
ständiges Gemeindewesen alle praktischen und ästhetischen 
Ansprüche befriedigen sollte. In dem Fabriksdorf entstand 
eine Architektur, die sich der alten Volksbaukunst und 
damit zugleich den natürlichen örtlichen Bedingungen, die 
durch das Gelände und durch die Lage zur Sonne gegeben 
waren, anschloß. Was der kleine Mittelstand und was die 
Arbeiterschaft zum Leben braucht, ist hier in idealer Form 
durchgebildet: ein Wohn- und einige Schlafzimmer mit Bad 
und Gartenanlage, alles in denkbar behaglichster Anordnung. 
Ganz ähnlich ist die Arbeiterkolonie der Kakao- und Scho 
koladenfabrik von G. Cadbury in Bournville bei Birming 
ham durchgeführt. In beiden Fällen sind es nicht auf Gewinn 
berechnete Unternehmungen; die Miete oder Hausrente deckt 
die Anlagekosten zuzüglich eines geringfügigen Zinsfußes. 
Darum ist von Haus aus die Möglichkeit eines wirtschaft 
lichen Gedeihens der Kolonie gegeben. 
In Amerika setzte diese Bewegung von allem Anfang an mit 
überaus großer Umsicht und klarer Erkenntnis der praktischen 
wirtschaftlichen und ästhetischen Erfordernisse ein. Diese 
äußere Erscheinung der amerikanischen Arbeiterhäuser oder 
der kleinen homes ist nicht in demselben Maße interessant 
und verschiedenartig wie die erwähnten englischen, aber sie 
sind frei von der Schablone und wegen ihrer ausgesprochenen 
Sachlichkeit in jedem besonderen Falle von besonderer 
Form. Gemeinsam ist allen die Grundanlage von Küche 
und Wohnraum oder Halle im Erdgeschoß und Schlafräumen 
mit Bädern im Dachgeschoß. Das Innere ist weiß oder in 
hellen Farben und von jener Schönheit, die viel eher die Be 
gleiterin denn, wie man häufig genug glaubt, die Gegnerin der 
Einfachheit ist. Für 900 Dollar ist ein solches Heim zu erwerben, 
also für einen Betrag, der nur ein Jahreseinkommen eines 
ganz bescheidenen amerikanischen Arbeiters darstellt. 
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