D er Zug vom Land nach der
Stadt, der das offene Land
entvölkert und in den
Städten die traurigen Er^
scheinungen der Übervölkerung und
Verelendung gezeitigt, hat eine
entgegengesetzte Bewegung hervor^
gerufen. Der beginnende Auszug
von der Stadt nach dem Lande
ist mancherorts mit allen inneren
und äußeren Anzeichen sozialer
Gesundung wahrzunehmen. Eine Anzahl von Industrien in
Amerika, England, Holland und Deutschland haben damit
begonnen, ihren Betrieb von der Stadt aufs offene Land zu
verlegen, ihre Arbeiterschaft aus den Hundelöchern der
großstädtischen Arbeiterbezirke, wo sich die gewissenlose
BodemWohnungs-- und Lebensmittelspekulation an ihnen
mästete, herauszuführen und nach künstlerischen, sozialen
und hygienischen Gesichtspunkten neue Gemeindewesen zu
schaffen, die nur Einzelwohnhäuser in Verbindung mit aller
Behaglichkeit und allen modernen Komforts enthalten.
Eine interessante Enquete hat ergeben, daß die Zahl der von
den Besitzern allein bewohnten Häuser in demselben Maße
abnimmt, als die Stadt an Einwohnerzahl zunimmt. Ein paar
vielsagende Ziffern drücken in Prozenten aus, wieviel Einzel-
Wohnhäuser durchschnittlich auf eine Stadt kommen:
Städte wie Paris, Wien, Berlin zirka 15 0 / 0
Städte von mehr als 100.000 Einwohnern „ i9’7 0 / 0
t, „ ,, 50*000 ,, „ 26*7 °/o
» n tt n 10.000 „ „ 3**3 °/o
„ _ „ weniger „ 2.000 „ „ 63-8 °/ 0
Es wird ohneweiters klar, daß die emporschnellenden Grund
preise das Heimwesen und die Cottagebildung für minderbe
mittelte Klassen unerschwinglich machen, und im Verein
mit der gleichen Schritt haltenden sonstigen Teuerung den
wenig anmutigen Typus moderner Großstädte geschaffen
haben.
Die ersten Arbeiterkolonien, die vor Jahrzehnten gegründet
wurden, sind als Humanitätsakte entstanden, ohne daß
der Menschlichkeit oder der Gerechtigkeit ein erheblicher
Dienst geleistet worden wäre, denn in der Regel sind es
dürftige Bauschablonen von peinigender Ode und Trost
losigkeit, die der Schönheit des Landes ebensosehr Ab
bruch tun, wie vielleicht der Lebensfreude der Menschen,
die darin zu wohnen verurteilt sind.
Die Arbeiterhäuser und Arbeiterkolonien gewannen sozial
politische Bedeutung erst von dem Momente an, da der
KÜNSTLER sich mit ihrer formalen Lösung befaßte. Der
Künstler übte den Akt menschlicher Gerechtigkeit, indem
er dem Menschen oder der Familie gab, was sie nach dem
Stande der modernen Kultur brauchte. Er brach mit der
Schablone und machte die Individualität frei. Er gestaltete
das Haus nach den Bedürfnissen der Familie, gab ihnen in
formaler Beziehung die Möglichkeit zur ungehinderten Ent
wicklung und Betätigung, gab dem Hause die natürliche
Schönheit im Anschluß an die heimatliche Bauweise und
den Seelen, die es bewohnten, den Stolz und die Freude,
Gutes Beispiel: Arbeiterhäuser im englischen Fabriksort Port Sunlight.
die solche Schönheit gewährt, er versah sie mit allen mo
dernen hygienischen und praktischen Einrichtungen, die das
Leben leicht und behaglich machen und das Gefühl der Ar
mut und Entbehrung ausschließen. Der soziale Ausgleich
wird in dieser Verallgemeinerung der Lebensgüter perfekt,
und der Luxus mag sich fortan nur in der Verwendung
kostbareren Materials manifestieren, keineswegs aber in der
einseitigen und ungerechten Beherrschung der Mittel, die das
Leben zu seiner Vollkommenheit und seinem Glück
nötig hat.
Das erste und beste praktische Beispiel dieser Art bildet das
bei Liverpool liegende Fabriksdorf Port Sunlight. Mister W. H.
Lever, der Besitzer der Sunlightseifenfabrik, berief den Künstler
zum Bau der Arbeiterkolonie, die gewissermaßen als voll
ständiges Gemeindewesen alle praktischen und ästhetischen
Ansprüche befriedigen sollte. In dem Fabriksdorf entstand
eine Architektur, die sich der alten Volksbaukunst und
damit zugleich den natürlichen örtlichen Bedingungen, die
durch das Gelände und durch die Lage zur Sonne gegeben
waren, anschloß. Was der kleine Mittelstand und was die
Arbeiterschaft zum Leben braucht, ist hier in idealer Form
durchgebildet: ein Wohn- und einige Schlafzimmer mit Bad
und Gartenanlage, alles in denkbar behaglichster Anordnung.
Ganz ähnlich ist die Arbeiterkolonie der Kakao- und Scho
koladenfabrik von G. Cadbury in Bournville bei Birming
ham durchgeführt. In beiden Fällen sind es nicht auf Gewinn
berechnete Unternehmungen; die Miete oder Hausrente deckt
die Anlagekosten zuzüglich eines geringfügigen Zinsfußes.
Darum ist von Haus aus die Möglichkeit eines wirtschaft
lichen Gedeihens der Kolonie gegeben.
In Amerika setzte diese Bewegung von allem Anfang an mit
überaus großer Umsicht und klarer Erkenntnis der praktischen
wirtschaftlichen und ästhetischen Erfordernisse ein. Diese
äußere Erscheinung der amerikanischen Arbeiterhäuser oder
der kleinen homes ist nicht in demselben Maße interessant
und verschiedenartig wie die erwähnten englischen, aber sie
sind frei von der Schablone und wegen ihrer ausgesprochenen
Sachlichkeit in jedem besonderen Falle von besonderer
Form. Gemeinsam ist allen die Grundanlage von Küche
und Wohnraum oder Halle im Erdgeschoß und Schlafräumen
mit Bädern im Dachgeschoß. Das Innere ist weiß oder in
hellen Farben und von jener Schönheit, die viel eher die Be
gleiterin denn, wie man häufig genug glaubt, die Gegnerin der
Einfachheit ist. Für 900 Dollar ist ein solches Heim zu erwerben,
also für einen Betrag, der nur ein Jahreseinkommen eines
ganz bescheidenen amerikanischen Arbeiters darstellt.
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