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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 1. Jahrgang 1904/05

□ Gutes Beispiel neuer Arbeit: Kreuzstich von Elisabeth Toffler; □ 
(Schule Prof. A. Böhm, Kunstschule für Frauen und Mädchen). Ent 
wurf aus den Forderungen der Technik und des Materials abgeleitet. 
□ Gegenbeispiel: a 
Eine der sklavisch nach' 
gestickten Schablonen, 
die der Ladenbesitzer als 
das „Neueste“ oder als 
□ „modern“ empfiehlt. □ 
Siehe „Reform der weib 
lichen Handarbeiten“. 
Diese Erkenntnis ist das einzige, das ihnen unentbehrlich 
ist. Sie lehrt, daß Stil nichts anderes ist als Materialsprache. 
Aus dem Material muß die Form geboren werden. Der 
Begriff „Stilisieren“, der immer nur Unheil angerichtet hat, 
wird auf diese Art hinfällig. Er gehört der alten Methode 
an, die überwunden werden soll. 
Die Frau, die auf diese Weise arbeitet, wird alsbald zu 
Formen gelangen, die ihre eigenen und die zugleich verwandt 
sind mit den ähnlichen Erzeugnissen aller Zeiten und aller 
Völker, die eine sachliche Kunst besaßen. Sie wird ihre 
Sonderart zeigen und insbesondere offenbaren können, ob 
sie Geschmack besitzt oder jene innere Kultur, die den 
primitiven Menschen auf dem Lande oder den Orientalen, 
deren Gewebe wir so hoch schätzen, mit der Unfehlbarkeit 
eines Naturgesetzes in seiner künstlerischen Heimarbeit leitet. 
Die materialgerechte und sinngemäße Behandlung wird den 
Naturalismus ausschließen müssen, den Kuchenbäcker, die 
gekreuzten Bestecke, die Inschriften und alle jene täuschenden 
Darstellungen von Wandgemälden, die sich mit dem Begriff: 
Nadelmalerei decken. Die Nadelmalerei hat Werke hervor' 
gebracht, die mit Ölgemälden wetteifern und Wirkungen 
anstreben, die ihrer Natur nicht gemäß sind. Sie sind aus 
diesem Grunde als durchaus unkünstlerisch zu verwerfen, 
wenn sie auch als virtuose Spielerei Staunen zu erregen 
vermögen. 
Trotz der strengen Auffassung wird bei selbständiger dekora' 
tiver Verwendung des Materials und der Technik die Natur 
im Hintergrund der Komposition stehen, ja, sie wird vielleicht 
noch genauer beobachtet werden müssen. 
Um Blätter, Blüten und andere reale Dinge in die dekorative 
Erscheinung mittels Nadeltechnik zu bringen, bedarf es einer 
eingehenden Vertiefung in die natürliche Form und Farbe 
des Vorwurfs. 
Studien mit Pinsel und Farbe oder mit färbigem Stift sind 
daher unerläßlich. 
Um eine Decke in Kanevasstickerei auszuführen, wird man 
die Kompositionsmöglichkeiten auf einem Kanevaspapier 
mit farbigem Stift ermitteln müssen. Die Möglichkeiten sind 
unbegrenzt. Die Stellung der kleinen Vierecke oder Dreiecke 
kann ins Unendliche verändert werden. Der Reichtum der 
Erfindung wird um die reizendsten Wirkungen vermehrt, 
wenn eine zweite Farbe in Anwendung kommt. 
Studien, die nach der Natur gemacht werden, um nachträglich 
in die Sprache des Materials übertragen zu werden, sollen 
auf die gesamte Farbenerscheinung abzielen. Ohne Vor' 
Zeichnung mit Pinsel und Farbe direkt auf dem Papier dar' 
gestellt, wird am leichtesten und sichersten zum wirklichen 
und vollständigen Erfassen der formalen und farbigen 
Eigenheiten führen. Das Konturenzeichnen ist weitaus 
schwieriger und für den nächsten Zweck ziemlich überflüssig. 
In der N atur sehen wir zuerst die Flächen, färbige Flächen, 
bei deren malerischer Wiedergabe die Grenzen oder Konturen 
leichter und sicherer gefunden werden, als wenn man bloß auf 
die Umrisse ausgeht. Der erste kühne Versuch mit Pinsel 
und Farbe ohne Vorzeichnen wird diese Tatsache erhärten. 
Nach diesem Vorstudium wird die eigentliche dekorative 
Verwendung der Formen erfolgen können, die geordnete, 
regelmäßige und rhythmische Anordnung und Wiederkehr 
der Motive, für die einzig und allein die Gesetze des Materials 
und der Technik maßgebend sind. Jene papierene Kunst, 
die willkürlich auf dem Blatt stilisiert, ohne Rücksicht auf 
jene materiellen Forderungen, hat ihre Daseinsberechtigung 
längst verloren, obgleich sie in den meisten FortbildungS', 
Gewerbe' und Kunstgewerbeschulen unbegreiflicherweise 
noch immer geübt wird. 
Die dekorative Verwendung der Mittel ist kein Stilisieren, 
sie ist nichts anderes als die Übertragung in die Material' 
spräche. Der Begriff „Stilisieren“ müßte aus der Kunstübung 
überhaupt verbannt werden. 
Gliederung, Belebung oder Beseelung der Fläche ist der Zweck 
jener künstlerischen Handarbeiten und des Ornaments über' 
haupt. Die Notwendigkeit der Flächenwirkung ergibt sich 
klarer, wenn zum Zweck der Applikation, als Vorübung, 
die Farbenflächen nach der Natur in Papier ausgeschnitten 
und zusammengesetzt werden. In der Wahl der Farben soll 
nicht Ängstlichkeit herrschen; kühne, ungewöhnliche Farben 
sollten bevorzugt sein, wenn wir dahin kommen wollen, daß 
auch in dieser Hinsicht Neuheit und Originalität Platz greife. 
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