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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 1. Jahrgang 1904/05

IX. 
GRAZ. 
on Wien bis Graz liegt eine Reihe von Städten und 
Ortschaften, die reich an künstlerischen und archü 
tektonischen Merkmalen sind. Man täte recht daran, 
alle fünf Minuten auszusteigen und den Zustand zu 
betrachten, der durch die Arbeit und die Zerstörung seit 
Jahrhunderten geworden. Und soviel des Guten ist geblieben, 
daß auf dieser einzigen Fahrt mit ihren Urm und Ausblicken 
alles gefunden werden kann, was zur künstlerischen Bildung 
gebraucht wird. Was die österreichischen Provinzen an solchen 
Kulturwerten besitzen, ist unerschöpflich. Wer baut und 
bauen läßt, wer überhaupt im weitesten Sinne an seiner 
künstlerischen Bildung arbeitet, hat hier wie überall in der 
Heimat das rechte Material. Die landschaftlichen Schönheiten 
merkt jeder. Man kennt und bewundert sie bis zu dem Grade, 
daß man alles andere übersieht. Und jenes andere, an dem 
man blind vorübergeht, DAS MENSCHENWERK, ist doch 
die wesentliche Grundlage, von der die Anmut und Wohm 
lichkeit oder die Häßlichkeit und Unwohnlichkeit eines 
Landes abhängt. Es gilt uns als wichtige Kulturaufgabe, das 
Auge zur Wahrnehmung und zum Verständnis des mensch^ 
liehen Schaffens zu organisieren, so wie es durch die Natmv 
freunde und Touristenvereine zur wenngleich einseitigen 
Bewunderung des Landschaftlichen erzogen wurde. Also alle 
Orte auf dieser Fahrt entlang sind zu entdecken und jene, 
die sie hundertmal gesehen, würden ihren Augen nicht trauen 
über die Fülle interessanter und lehrreicher Formen, an denen 
sie achtlos vorübergeeilt. Ist es z. B. nicht merkwürdig, daß von 
den Hunderttausenden, die alljährlich an der auf dieser Strecke 
gelegenen Station WIENER-NEUSTADT vorbeifahren, kaum 
zwei Menschen eine Ahnung haben, daß hinter der also be 
nannten Station ein einzigartiges schönes Stadtgebilde liegt? 
Eine alte Fürstenstadt mit ausgezeichneter Stadtanlage, einem 
Konglomerat prachtvoller Plätze, mit Laubengängen, alten 
Kirchen und Bauwerken aus der altgotischen Zeit bis zur Bieder 
meierepoche, die dem ganzen Stadtbilde den Charakter geben, der 
durch ein paar neuere schlechte Zinskasernen und die üblen 
Spekulationsbauten der Sparkassa noch wenig gelitten hat. 
Die Stadt liegt ganz in der Ebene; die Straßen verlaufen 
in ziemlich gerader Richtung und sind dennoch abwechslungs 
voll, was als Beweis gelten kann, daß das Heil der Städte 
anlagen durchaus nicht von den krummen Straßen abhängt; 
BEISPIEL. 
die Plätze sind geschlossen, die Zufahrten verdeckt und doch 
bequem, und auf Schritt und Tritt wird die Aufmerksamkeit 
durch die charakteristische Bauart, durch alte Skulpturen, 
Monumentalgebäuden und sonstigen Äußerungen echter 
Handwerkskunst gebannt. 
Nur vorübergehend erwähnt und einer ferneren eingehenderen 
Darstellung Vorbehalten bleiben mag die köstliche Fülle 
interessanter Erscheinungen, die künstlerisches Interesse be 
anspruchen und die an allen Orten das Anhalten verlohnen. 
Die Fahrt entlang in Steiermark eine bunte Reihe inter 
essanter Dörfer, alter Kirchenbauten, Bauernhäuser und Reste 
alter Bauernkunst, kleine Städte mit ganz erlesenen Kunst 
schätzen, wie Bruck a. d. Mur mit seinem alten schmiedeeisernen 
Brunnen, dem altgotischen reich verzierten Steinwerk an einem 
Bürgerhause und dem Stadthause im Empirecharakter, u. s. f., 
überall wird man die erfreuliche Wahrnehmung machen, daß 
einst der Künstler schuf, wo heute der nüchterne Spekulations 
geist an der Arbeit ist, das Land zu entstellen und unerfreuliche 
Zustände herbeizuführen. Die häßlichen Fabriksarbeiterhäuser 
längs der Bahn, ein großer Teil des Neuschaffens in den 
Städten und kleineren Orten und vor allem in Graz, sind 
Zeichen, daß der Kunstgeist, der das Alte geschaffen, längst 
erstorben ist. 
So kommt der Kunstwanderer nach der steiermärkischen 
Landeshauptstadt mit gemischten Eindrücken, die sich hier 
in gleichem Maße verstärken. Die liebliche alte Gartenstadt, 
in weitem Umkreis von Waldbergen umschlossen, malerisch 
um den grünen Schloßberg gruppiert, reich an Palästen, schönen 
Höfen, anmutigen Plätzen, altertümlichen Gassen und Häusern, 
ist im Begriffe, ihre alte malerische Tracht abzulegen und die 
graue Uniform des k. k. Bauamtsstils anzulegen. Graz wird ganz 
neu gebaut, seiner alten baukünstlerischen Schönheit beraubt, 
ohne dafür eine neue baukünstlerische Schönheit zu erhalten. 
Alles Neue ist dürftig auf die banalste Nützlichkeit mit 
äußerlichem Aufwand an protziger, unechter Palastarchitektur 
zugeschnitten. Geschähe alles wirklich im Sinne der Nützlich 
keit und der Zweckerfüllung, dann würde es gar nicht anders 
als sachlich und zugleich schön ausfallen und man hätte 
gar nicht nötig, für einen besonderen Schmuck zu sorgen. 
Aber davon ist man sehr weit entfernt. Die Stadt mußte für 
neue Lebensverhältnisse und bequemere Ansprüche umgebaut 
werden, eine Notwendigkeit, die mit Freuden zu begrüßen 
ist; mußte aber alles nach einer dürftigen und in Wahrheit 
ganz unzweckmäßigen Schablone vor sich gehen? 
GEGENBEISPIEL. 
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