zelnen Mitgliedern zur Last legen wollte, daß der Stand von
so unzulänglichen Anschauungen beherrscht wird, wie sie
in jenem Memorandum zum Ausdruck gelangen?
Man untersuche doch einmal, warum die gewerblichen Fach'
schulen, die höheren Gewerbeschulen vielfach über ganz tüch'
tige Zeichenlehrkräfte verfügen, warum der Zeichenunterricht
an unseren Bürgerschulen relativ besser ist als an unseren
Mittelschulen und warum viele Bürgerschulzeichenlehrer denen
der Mittelschulen zweifellos überlegen sind! —
Wenn sich ein Mittelschulzeichenlehrer etwa noch einen Rest
von lebendigem künstlerischem Interesse in sein Amt hinüber^
gerettet hat, so hängt es ganz von seinem „Inspektor des
Zeichnens“ ab, wie weit er ihn betätigen darf.
Der Zeicheninspektor beaufsichtigt den Zeichenlehrer. Wer
aber kontrolliert das Wirken des Zeicheninspektors? Wer
bestellt ihn überhaupt? Jemand, der etwas vom Zeichnen ver--
steht? Nein. Mir sind von Zeicheninspektoren Stückchen be^
kannt, die sich wie Erzählungen aus Schilda anhören. Aber
ihre Verüber wurden nicht etwa entlassen, sondern regeh
mäßig aufs neue bestätigt.
Solange der Zeichenunterricht Unterrichtsangelegenheit bleibt,
solange nicht die Anschauung durchdringt, daß es eine Kunst'
angelegenheit ist, kann man eben nicht auf Besserung hoffen.
Wären Zeichenlehrer und 'Inspektoren bloß starrsinnig kom
servativ, so wäre das Übel noch nicht so schlimm. Aber
eine sonderbare Sorte von Ehrgeiz treibt sie, jede neuauf'
tretende Idee entweder als unsinnig oder als von ihnen selbst
schon lange durchgeführt hinzustellen. So glauben sie modern
zu unterrichten, wenn sie statt des Renaissanceschnörkels
einen modernen Schnörkel kopieren lassen, glauben zu „stili'
sieren“, wenn sie den Reichtum der Naturform in geometrische
Langweile umsetzen, glauben „Naturzeichnen“ zu treiben, wenn
sie den Schülern ausgestopfte Vögel aus dem Naturalien'
kabinett, Blumen in einem gewöhnlich jämmerlich verzeich'
neten Gefäß malen lassen oder ihm ein „Stilleben“ aus alten
verbeulten Waffen und zerfetzten Büchern stellen.
Ihrem, durch die vielen unvermeidlichen Nichtigkeiten des
täglichen Dienstes getrübten, kleinlich sehenden Auge scheint
das Reform zu sein. Aber mit diesem „friedlichen“ Tempo
werden wir den Vorsprung, den uns das Ausland abgewonnen
hat, nicht einholen. Denn es ist ganz unwahr, daß wir mit
unserem Zeichenunterrichte an Mittelschulen dem Ausland
voranschreiten und ihm als Beispiel dienen. Höchstens als
abschreckendes. Besonders darf man nicht außer acht lassen,
daß im Auslande dem Zeichenunterrichte nicht die gleiche
Bedeutung zukommt wie bei uns, weil dort anderweitig besser
für ihn vorgesorgt ist. Und das zeigt uns, wie sich voraus'
sichtlich bei uns die Entwicklung vollziehen wird. Nicht an
den Mittelschulen wird die Wiedergeburt eines wahren Zeichen'
Unterrichtes erfolgen, sondern an den Volks' und Bürgerschulen,
an den gewerblichen und Fachanstalten, vielleicht auch an
eigenen Staatszeichenschulen, deren Schaffung ja auf die Dauer
doch nicht zu vermeiden sein wird. Die dort zur Reife ge'
langten Erfahrungen werden dann an den Mittelschulen am
gewendet werden müssen, über die Köpfe der staatsgeprüften
Lehrer und der heute noch omnipotenten Inspektoren hinweg.
Und dieser Prozeß wird um so schmerzhafter für die Herren
sein, je hochmütiger sie heute auf die Reformbewegung herab'
blicken, statt in aller Bescheidenheit von ihr zu lernen, und
je mehr sie sich, wie in dem Memorandum, auf diesen Stand'
punkt von pedantischen Beamten stellen, denen ein „Wanken
des gegenwärtigen Unterrichtsorganismus“ als irreparables
Unglück erscheint. Sie versehen die Publizierung ihrer Eingabe
zwar mit der Überschrift „Die Mittelschule für die FREIHEIT
der Methode“, gipfeln aber in der Bitte, an ihre jetzige Methode
ja nicht rühren zu lassen. Ja, wird denn dieser Aberglaube an
die Allmacht der Methode nicht endlich fallen gelassen werden?
Die beste Methode ist in der Hand des schlechten Lehrers
wertlos und der gute Lehrer hat seine eigene, die ihm niemand
verbessern kann. Beim Zeichenunterricht wenigstens ist es
so; denn Zeichnen läßt sich nicht lehren wie etwa Latein
oder Erdkunde oder sonst eine wissenschaftliche Disziplin,
und will man diesen prinzipiellen Unterschied nicht zugeben,
verbietet die Würde der Mittelschule, daß an ihr ein Gegem
stand anders als nach wissenschaftlichen Grundsätzen gelehrt
werde, dann lasse man das Zeichnen doch lieber ganz weg
aus dem Lehrplan, erspare dem Schüler Zeitverschwendung
und verbilde nicht systematisch das naive Kunstempfinden
breiter Volksschichten. Die Zeichenlehrer verteidigen die „Me'
thode“ und bemerken gar nicht, daß alle ernsten Reform'
versuche sich erst mittelbar gegen diese, in erster Linie aber
gegen das jetzige LEHRZIEL richten, nicht gegen das ge'
schriebene, sondern gegen das der Praxis. Nehmen wir an, die
jetzige Methode sei wirklich der beste Weg zur Erreichung des
letzteren: aber die Reformbewegung kümmert sich darum ja gar
nicht, sondern sie behauptet, daß jene Fähigkeiten, die heute
dem Mittelschüler ein „Vorzüglich“ im Zeichnen eintragen,
für ihn wertlos sind, daß man ihm für seine aufgewendete
Mühe und Zeit Besseres geben könne und daß die Vermittlung
dieses Besseren eine kulturelle Notwendigkeit sei.
Ich bin nicht naiv genug, in diesen flüchtigen Zeilen einen
Programmentwurf für das Zeichnen an Mittelschulen ver'
suchen zu wollen, und begnüge mich mit folgenden prinzi'
piellen Bemerkungen.
Der heutige Mittelschul'Zeichenunterricht lehrt, bildlich ge'
meint. Sprechen, aber nicht Denken. Er vermittelt Ausdrucks'
fertigkeiten, aber er verleiht nicht die Kraft des Empfangens
durch das Auge.
Da aber jede Fertigkeit verloren geht, sobald sie nicht mehr
geübt wird, und da die Mehrzahl der Berufe, die von Mittel'
Schülern ergriffen werden, der Pflege ihrer Zeichenfertigkeit
ungünstig ist, jenen Berufen aber, die zeichnerische Fertig'
keiten erfordern, mit dem an der Mittelschule erwerbbaren
Grade nicht gedient ist, so ist der gegenwärtige Zeichenunter'
rieht an Mittelschulen zumeist zwecklose Zeitverschwendung.
Daß diese Anschauung nicht nur in den Reformern lebt,
sondern ganz allgemein ist, und daß es gewöhnlich nur an
dem Mut, sie auszusprechen, fehlt, geht aus der schon er'
wähnten geringen Wertschätzung hervor, die der Mittelschul'
lehrer des Zeichnens zumeist bei seinen Kollegen der anderen
Fächer genießt, aus der Leichtigkeit, mit der bei den vorge'
setzten Schulbehörden eine Dispens vom Besuche des Zeichen'
Unterrichtes zu erlangen ist, und aus der geringen Bedeutung,
die der Zeugnisnote aus Zeichnen beigelegt wird. Alles das
würde sich ändern, wenn der Zeichenunterricht sich seiner
Aufgabe bewußt würde, der Menge von Zivilisation, die dem
Mittelschüler durch alle die wissenschaftlichen Fächer des
Lehrplanes geboten wird, als einziger Lehrgegenstand auch
etwas Kultur beizufügen. Und diese Aufgabe kann er nur
dann erfüllen, wenn er alles Gewicht darauf legt, jene Kraft
im Schüler zu erwecken und auszubilden, die man die Im
tensität des Sehens nennen kann. Sie geht, einmal erworben,
das ganze Leben lang nicht mehr verloren, mag ihr Besitzer
was immer für einen Lebensberuf ausüben, sie macht ihn
tüchtig, das Schöne in Natur und Kunst zu genießen, und
verleiht ihrem Träger inneren Reichtum und dadurch er'
höhte Tüchtigkeit im Lebenskämpfe.
Das ist das Ziel, dem alle Reformgedanken zustreben. Den
Mittelschullehrern steht es frei, hinter dieser Entwicklung
zurückzubleiben, aufhalten werden sie sie nicht.
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