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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 1. Jahrgang 1904/05

zelnen Mitgliedern zur Last legen wollte, daß der Stand von 
so unzulänglichen Anschauungen beherrscht wird, wie sie 
in jenem Memorandum zum Ausdruck gelangen? 
Man untersuche doch einmal, warum die gewerblichen Fach' 
schulen, die höheren Gewerbeschulen vielfach über ganz tüch' 
tige Zeichenlehrkräfte verfügen, warum der Zeichenunterricht 
an unseren Bürgerschulen relativ besser ist als an unseren 
Mittelschulen und warum viele Bürgerschulzeichenlehrer denen 
der Mittelschulen zweifellos überlegen sind! — 
Wenn sich ein Mittelschulzeichenlehrer etwa noch einen Rest 
von lebendigem künstlerischem Interesse in sein Amt hinüber^ 
gerettet hat, so hängt es ganz von seinem „Inspektor des 
Zeichnens“ ab, wie weit er ihn betätigen darf. 
Der Zeicheninspektor beaufsichtigt den Zeichenlehrer. Wer 
aber kontrolliert das Wirken des Zeicheninspektors? Wer 
bestellt ihn überhaupt? Jemand, der etwas vom Zeichnen ver-- 
steht? Nein. Mir sind von Zeicheninspektoren Stückchen be^ 
kannt, die sich wie Erzählungen aus Schilda anhören. Aber 
ihre Verüber wurden nicht etwa entlassen, sondern regeh 
mäßig aufs neue bestätigt. 
Solange der Zeichenunterricht Unterrichtsangelegenheit bleibt, 
solange nicht die Anschauung durchdringt, daß es eine Kunst' 
angelegenheit ist, kann man eben nicht auf Besserung hoffen. 
Wären Zeichenlehrer und 'Inspektoren bloß starrsinnig kom 
servativ, so wäre das Übel noch nicht so schlimm. Aber 
eine sonderbare Sorte von Ehrgeiz treibt sie, jede neuauf' 
tretende Idee entweder als unsinnig oder als von ihnen selbst 
schon lange durchgeführt hinzustellen. So glauben sie modern 
zu unterrichten, wenn sie statt des Renaissanceschnörkels 
einen modernen Schnörkel kopieren lassen, glauben zu „stili' 
sieren“, wenn sie den Reichtum der Naturform in geometrische 
Langweile umsetzen, glauben „Naturzeichnen“ zu treiben, wenn 
sie den Schülern ausgestopfte Vögel aus dem Naturalien' 
kabinett, Blumen in einem gewöhnlich jämmerlich verzeich' 
neten Gefäß malen lassen oder ihm ein „Stilleben“ aus alten 
verbeulten Waffen und zerfetzten Büchern stellen. 
Ihrem, durch die vielen unvermeidlichen Nichtigkeiten des 
täglichen Dienstes getrübten, kleinlich sehenden Auge scheint 
das Reform zu sein. Aber mit diesem „friedlichen“ Tempo 
werden wir den Vorsprung, den uns das Ausland abgewonnen 
hat, nicht einholen. Denn es ist ganz unwahr, daß wir mit 
unserem Zeichenunterrichte an Mittelschulen dem Ausland 
voranschreiten und ihm als Beispiel dienen. Höchstens als 
abschreckendes. Besonders darf man nicht außer acht lassen, 
daß im Auslande dem Zeichenunterrichte nicht die gleiche 
Bedeutung zukommt wie bei uns, weil dort anderweitig besser 
für ihn vorgesorgt ist. Und das zeigt uns, wie sich voraus' 
sichtlich bei uns die Entwicklung vollziehen wird. Nicht an 
den Mittelschulen wird die Wiedergeburt eines wahren Zeichen' 
Unterrichtes erfolgen, sondern an den Volks' und Bürgerschulen, 
an den gewerblichen und Fachanstalten, vielleicht auch an 
eigenen Staatszeichenschulen, deren Schaffung ja auf die Dauer 
doch nicht zu vermeiden sein wird. Die dort zur Reife ge' 
langten Erfahrungen werden dann an den Mittelschulen am 
gewendet werden müssen, über die Köpfe der staatsgeprüften 
Lehrer und der heute noch omnipotenten Inspektoren hinweg. 
Und dieser Prozeß wird um so schmerzhafter für die Herren 
sein, je hochmütiger sie heute auf die Reformbewegung herab' 
blicken, statt in aller Bescheidenheit von ihr zu lernen, und 
je mehr sie sich, wie in dem Memorandum, auf diesen Stand' 
punkt von pedantischen Beamten stellen, denen ein „Wanken 
des gegenwärtigen Unterrichtsorganismus“ als irreparables 
Unglück erscheint. Sie versehen die Publizierung ihrer Eingabe 
zwar mit der Überschrift „Die Mittelschule für die FREIHEIT 
der Methode“, gipfeln aber in der Bitte, an ihre jetzige Methode 
ja nicht rühren zu lassen. Ja, wird denn dieser Aberglaube an 
die Allmacht der Methode nicht endlich fallen gelassen werden? 
Die beste Methode ist in der Hand des schlechten Lehrers 
wertlos und der gute Lehrer hat seine eigene, die ihm niemand 
verbessern kann. Beim Zeichenunterricht wenigstens ist es 
so; denn Zeichnen läßt sich nicht lehren wie etwa Latein 
oder Erdkunde oder sonst eine wissenschaftliche Disziplin, 
und will man diesen prinzipiellen Unterschied nicht zugeben, 
verbietet die Würde der Mittelschule, daß an ihr ein Gegem 
stand anders als nach wissenschaftlichen Grundsätzen gelehrt 
werde, dann lasse man das Zeichnen doch lieber ganz weg 
aus dem Lehrplan, erspare dem Schüler Zeitverschwendung 
und verbilde nicht systematisch das naive Kunstempfinden 
breiter Volksschichten. Die Zeichenlehrer verteidigen die „Me' 
thode“ und bemerken gar nicht, daß alle ernsten Reform' 
versuche sich erst mittelbar gegen diese, in erster Linie aber 
gegen das jetzige LEHRZIEL richten, nicht gegen das ge' 
schriebene, sondern gegen das der Praxis. Nehmen wir an, die 
jetzige Methode sei wirklich der beste Weg zur Erreichung des 
letzteren: aber die Reformbewegung kümmert sich darum ja gar 
nicht, sondern sie behauptet, daß jene Fähigkeiten, die heute 
dem Mittelschüler ein „Vorzüglich“ im Zeichnen eintragen, 
für ihn wertlos sind, daß man ihm für seine aufgewendete 
Mühe und Zeit Besseres geben könne und daß die Vermittlung 
dieses Besseren eine kulturelle Notwendigkeit sei. 
Ich bin nicht naiv genug, in diesen flüchtigen Zeilen einen 
Programmentwurf für das Zeichnen an Mittelschulen ver' 
suchen zu wollen, und begnüge mich mit folgenden prinzi' 
piellen Bemerkungen. 
Der heutige Mittelschul'Zeichenunterricht lehrt, bildlich ge' 
meint. Sprechen, aber nicht Denken. Er vermittelt Ausdrucks' 
fertigkeiten, aber er verleiht nicht die Kraft des Empfangens 
durch das Auge. 
Da aber jede Fertigkeit verloren geht, sobald sie nicht mehr 
geübt wird, und da die Mehrzahl der Berufe, die von Mittel' 
Schülern ergriffen werden, der Pflege ihrer Zeichenfertigkeit 
ungünstig ist, jenen Berufen aber, die zeichnerische Fertig' 
keiten erfordern, mit dem an der Mittelschule erwerbbaren 
Grade nicht gedient ist, so ist der gegenwärtige Zeichenunter' 
rieht an Mittelschulen zumeist zwecklose Zeitverschwendung. 
Daß diese Anschauung nicht nur in den Reformern lebt, 
sondern ganz allgemein ist, und daß es gewöhnlich nur an 
dem Mut, sie auszusprechen, fehlt, geht aus der schon er' 
wähnten geringen Wertschätzung hervor, die der Mittelschul' 
lehrer des Zeichnens zumeist bei seinen Kollegen der anderen 
Fächer genießt, aus der Leichtigkeit, mit der bei den vorge' 
setzten Schulbehörden eine Dispens vom Besuche des Zeichen' 
Unterrichtes zu erlangen ist, und aus der geringen Bedeutung, 
die der Zeugnisnote aus Zeichnen beigelegt wird. Alles das 
würde sich ändern, wenn der Zeichenunterricht sich seiner 
Aufgabe bewußt würde, der Menge von Zivilisation, die dem 
Mittelschüler durch alle die wissenschaftlichen Fächer des 
Lehrplanes geboten wird, als einziger Lehrgegenstand auch 
etwas Kultur beizufügen. Und diese Aufgabe kann er nur 
dann erfüllen, wenn er alles Gewicht darauf legt, jene Kraft 
im Schüler zu erwecken und auszubilden, die man die Im 
tensität des Sehens nennen kann. Sie geht, einmal erworben, 
das ganze Leben lang nicht mehr verloren, mag ihr Besitzer 
was immer für einen Lebensberuf ausüben, sie macht ihn 
tüchtig, das Schöne in Natur und Kunst zu genießen, und 
verleiht ihrem Träger inneren Reichtum und dadurch er' 
höhte Tüchtigkeit im Lebenskämpfe. 
Das ist das Ziel, dem alle Reformgedanken zustreben. Den 
Mittelschullehrern steht es frei, hinter dieser Entwicklung 
zurückzubleiben, aufhalten werden sie sie nicht. 
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