GEGENBEISPIEL:
Der heutige Zustand des Franz-Josephsplatzes in Jägerndorf mit dem neuen Rathaus.
die einst so harmonischen Platzverhältnisse zerstörend,
anderseits mit dem unmotivierten Turm die Höhenent^
wicklung der Pfarrkirche übertrumpfend, die einst im
Gesamtbild dominierte. Auf diese Art ist Disharmonie in
das einstmals ruhige und wohlabgestufte Gesamtbild eim
gedrungen. Die Platzfrage ist auch hinsichtlich der Baulinie
zu einer unlösbaren Verlegenheit geworden. In einer um
gebrochenen Kurve zog früher die Straße bis zum alten
Rathaus hin, mit dem sie abschloß. Der neue Bau springt
mit der Turmseite weit aus der Baulinie hervor und bildet
eine tiefe Ecke, mit der nichts anzufangen ist. Es ist nicht fest-
zustellen, ob die Jägerndorfer eine besondere Freude mit ihrem
neuen Rathaus haben; nur soviel ist unzweifelhaft, daß sich
jeder Fremde, der die Besonderheiten der Stadt kennen lernen
will, gelangweilt von einem Bau abwendet, den er als nichts^
sagenden Typus schon aus so und so vielen Städten kennt.
Was für eine herrliche Gelegenheit haben sich die Bürger
von Jägerndorf entgehen lassen! Als sie das alte Rathaus
abtragen ließen, bestand für sie die Aufgabe, der Stadt ein
neues Wahrzeichen zu geben, das von ihrem Bürgerstolz
und ihrer Liebe zur heimatlichen Art, in der alle Wurzeln
der Kraft liegen, fortdauernd Zeugnis gegeben hätte. Sie
hätten es in dieser Aufgabe ziemlich leicht gehabt, denn es
lag ihnen das Projekt eines Künstlers vor, der, als Sohn
dieser Stadt, weiß, was ihr frommt. Man mag über den Ent-
denken, wie man will; der Künstler gibt selber zu,
daß er nicht als die endgültige Lösung zu betrachten ist. Aber
schon in dieser Form, wie wir ihn dem ausgeführten schablonem
haften Werk zum Vergleich entgegenstellen, sind die wesenL-
liehen künstlerischen Momente, auf die es in dem Jägerndorfer
Falle angekommen wäre, enthalten: Eine ruhige, geschlossene
Gesamtwirkung, eine maßvolle Höhenentwicklung und eine
glückliche Platzlösung, die den einstigen Zustand respektiert.
Das sind wichtige Merkmale, die die Stadtväter hätten ins Auge
fassen müssen. Es war von ihnen billigermaßen nicht zu
verlangen, den Entwurf des Künstlers in der vorliegenden
Form anzunehmen, obzwar vorauszusehen gewesen wäre,
daß Beratungen mit dem Künstler zu einer Lösung geführt
hätten, die sich würdig der guten Jägerndorfer Bautradition
anschließt. Es war sogar nicht einmal zu verlangen, daß sie
sich auf diese Beratungen überhaupt einließen, und sie hätten
mit gutem Fug einen ganz unbekannten Künstler ausersehen
können, denn das ist Sache ihres freien Ermessens. Dagegen
aber wäre von ihnen wohl zu verlangen gewesen, daß sie
auf jene wesentlichen Hauptmerkmale des heimatlichen
Baugedankens bestehen, mag er in was immer für einer
modernen und freien Form entwickelt sein. Denn es soll
sich nicht um Nachahmung der Vorbilder handeln, nicht um
heimatliche Stilmacherei, sondern um sachliche und selbständige
Erfassung und Entwicklung der bodenständigen Bauweise.
Wo finden wir diese Merkmale an dem neuen Rathausbau?
MIT DEM BESCHEIDENEN ALTEN RATHAUS ODER
MIT DEN ANDEREN SCHLICHTEN BÜRGERS-
HAUSERN DER ÄLTEREN ZEIT VERGLICHEN, BE
DEUTET DAS NEUE RATHAUS EIN ERHEBLICHES
DEFIZIT AN KULTUR.
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