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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 1. Jahrgang 1904/05

GEGENBEISPIEL: 
Der heutige Zustand des Franz-Josephsplatzes in Jägerndorf mit dem neuen Rathaus. 
die einst so harmonischen Platzverhältnisse zerstörend, 
anderseits mit dem unmotivierten Turm die Höhenent^ 
wicklung der Pfarrkirche übertrumpfend, die einst im 
Gesamtbild dominierte. Auf diese Art ist Disharmonie in 
das einstmals ruhige und wohlabgestufte Gesamtbild eim 
gedrungen. Die Platzfrage ist auch hinsichtlich der Baulinie 
zu einer unlösbaren Verlegenheit geworden. In einer um 
gebrochenen Kurve zog früher die Straße bis zum alten 
Rathaus hin, mit dem sie abschloß. Der neue Bau springt 
mit der Turmseite weit aus der Baulinie hervor und bildet 
eine tiefe Ecke, mit der nichts anzufangen ist. Es ist nicht fest- 
zustellen, ob die Jägerndorfer eine besondere Freude mit ihrem 
neuen Rathaus haben; nur soviel ist unzweifelhaft, daß sich 
jeder Fremde, der die Besonderheiten der Stadt kennen lernen 
will, gelangweilt von einem Bau abwendet, den er als nichts^ 
sagenden Typus schon aus so und so vielen Städten kennt. 
Was für eine herrliche Gelegenheit haben sich die Bürger 
von Jägerndorf entgehen lassen! Als sie das alte Rathaus 
abtragen ließen, bestand für sie die Aufgabe, der Stadt ein 
neues Wahrzeichen zu geben, das von ihrem Bürgerstolz 
und ihrer Liebe zur heimatlichen Art, in der alle Wurzeln 
der Kraft liegen, fortdauernd Zeugnis gegeben hätte. Sie 
hätten es in dieser Aufgabe ziemlich leicht gehabt, denn es 
lag ihnen das Projekt eines Künstlers vor, der, als Sohn 
dieser Stadt, weiß, was ihr frommt. Man mag über den Ent- 
denken, wie man will; der Künstler gibt selber zu, 
daß er nicht als die endgültige Lösung zu betrachten ist. Aber 
schon in dieser Form, wie wir ihn dem ausgeführten schablonem 
haften Werk zum Vergleich entgegenstellen, sind die wesenL- 
liehen künstlerischen Momente, auf die es in dem Jägerndorfer 
Falle angekommen wäre, enthalten: Eine ruhige, geschlossene 
Gesamtwirkung, eine maßvolle Höhenentwicklung und eine 
glückliche Platzlösung, die den einstigen Zustand respektiert. 
Das sind wichtige Merkmale, die die Stadtväter hätten ins Auge 
fassen müssen. Es war von ihnen billigermaßen nicht zu 
verlangen, den Entwurf des Künstlers in der vorliegenden 
Form anzunehmen, obzwar vorauszusehen gewesen wäre, 
daß Beratungen mit dem Künstler zu einer Lösung geführt 
hätten, die sich würdig der guten Jägerndorfer Bautradition 
anschließt. Es war sogar nicht einmal zu verlangen, daß sie 
sich auf diese Beratungen überhaupt einließen, und sie hätten 
mit gutem Fug einen ganz unbekannten Künstler ausersehen 
können, denn das ist Sache ihres freien Ermessens. Dagegen 
aber wäre von ihnen wohl zu verlangen gewesen, daß sie 
auf jene wesentlichen Hauptmerkmale des heimatlichen 
Baugedankens bestehen, mag er in was immer für einer 
modernen und freien Form entwickelt sein. Denn es soll 
sich nicht um Nachahmung der Vorbilder handeln, nicht um 
heimatliche Stilmacherei, sondern um sachliche und selbständige 
Erfassung und Entwicklung der bodenständigen Bauweise. 
Wo finden wir diese Merkmale an dem neuen Rathausbau? 
MIT DEM BESCHEIDENEN ALTEN RATHAUS ODER 
MIT DEN ANDEREN SCHLICHTEN BÜRGERS- 
HAUSERN DER ÄLTEREN ZEIT VERGLICHEN, BE 
DEUTET DAS NEUE RATHAUS EIN ERHEBLICHES 
DEFIZIT AN KULTUR. 
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