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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 1. Jahrgang 1904/05

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DIE GROSSE STADT. 
GEDICHT VON WALT WHITMAN. 
EINE GROSSE STADT IST DIE, DIE DIE GRÖSSTEN MÄNNER UND 
WEIBER HAT, 
UND WENN SIE AUS ELENDEN HÜTTEN BESTÄNDE, IST SIE 
DIE GRÖSSTE STADT DER WELT. 
DIE STELLE, WO EINE GROSSE STADT STEHT, IST NICHT DIE 
STELLE DER WEITGEDEHNTEN WERFTEN UND DOCKS, 
DER FABRIKEN UND LAGERHÄUSER, 
NOCH DIE STELLE, WO DIE ENDLOSEN GRÜSSE ERSCHALLEN 
DER NEUGEKOMMENEN, UND ABREISENDE EWIG DIE 
ANKER LICHTEN, 
NOCH DIE STELLE DER HÖCHSTEN UND REICHSTEN GEBÄUDE 
ODER DER LÄDEN, DIE GÜTER AUS ALLEN LANDEN 
DER ERDE VERKAUFEN, 
NOCH DIE STELLE DER BESTEN SCHULEN UND BIBLIOTHEKEN, 
NOCH DER ORT, WO DIE FÜLLE DES GELDES FLIESST, 
NOCH DIE DER ZAHLREICHSTEN BEVÖLKERUNG. 
WO DIE STADT STEHT, DIE DIE TÜCHTIGSTE RASSE VON 
REDNERN UND SÄNGERN ERZEUGT, 
WO DIE STADT STEHT, DIE VON DIESEN GELIEBT WIRD UND 
SIE WIEDER LIEBT UND VERSTEHT, 
WO MAN DEN HELDEN KEINE DENKMÄLER ERRICHTET, ES 
WÄRE DENN IN DEN WORTEN UND TATEN DES VOLKES, 
WO SPARSAMKEIT AN IHREM PLATZE IST, UND KLUGHEIT AN 
IHREM PLATZE, 
WO MÄNNERUND WEIBER GERING DENKEN VON DEN GESETZEN, 
WO ES KEINE SKLAVEN MEHR GIBT UND KEINEN SKLAVEN' 
HALTER GEBEN KANN, 
WO DAS VOLK IM AUGENBLICK AUFSTEHT GEGEN DIE NIE' 
MALS ENDENDE ANMASSUNG DER PERSONEN IM AMTE, 
WO TROTZIGE MÄNNER UND WEIBER HERAUSSTRÖMEN, WIE 
DAS MEER ZUR PFEIFE DES TODES SEINE FLUTENDEN, 
UNGEBROCHENEN WOGEN AUSSTRÖMT, 
WO ÄUSSERE WÜRDE AM WENIGSTEN GILT UND INNERE 
WÜRDE DEN VORRANG HAT, 
WO DER BÜRGER IMMER DAS HAUPT UND DAS ZIEL IST, UND 
DER PRÄSIDENT ODER STATTHALTER ODER BÜRGER- 
MEISTER UND WAS IHR IHN NENNEN MÖGET, NICHTS 
ALS BEZAHLTE DIENER SIND, 
WO KINDER GELEHRT WERDEN, SICH SELBST GESETZ ZU SEIN 
UND NUR SICH SELBST ZU GEHORCHEN, 
WO RECHTLICHKEIT IN GESCHÄFTEN HERRSCHT, 
WO GEISTIGES STREBEN ERMUTIGT WIRD, 
WO FRAUEN IN DEN ÖFFENTLICHEN ZÜGEN DURCH DIE 
STRASSEN SCHREITEN GENAU WIE DIE MÄNNER, 
WO DIE STADT DER TREUESTEN FREUNDE STEHT, 
WO DIE STADT DER REINLICHKEIT DER GESCHLECHTER STEHT, 
WO DIE STADT DER GESÜNDESTEN VÄTER STEHT, 
WO DIE STADT DER VOLLKOMMENSTEN MÜTTER STEHT, 
DORT STEHT DIE GROSSE STADT. 
MISSSTÄNDE DER GEGENWÄRTIGEN 
GROSSSTADTANLAGEN. 
DAS WOHNUNGSELEND IM ZUSAMMEN^ 
HANG MIT UNSERER WIRTSCHAFT. 
LICHEN VERFASSUNG. 
I n den letzten fünfzig Jahren haben unsere Städte eine solche 
Umwandlung erfahren wie früher niemals im Laufe von 
Jahrhunderten. Herrlich zusammengestimmte alte Stadt- 
bilder mußten schwinden, um Neuschöpfungen Platz zu 
machen, wertvolle Baudenkmäler, behagliche Plätze und traute 
Gassen wurden unbedenklich den Anforderungen der neuen Zeit 
geopfert. Was geschehen ist, ist immer im Namen des Fort- 
Schrittes geschehen. Der Fortschritt verlangte breite Straßen, 
bequem für den Verkehr und für den Luft- und Lichtzutritt, 
gesundes und billiges Wohnen für die in ungeheurer Zu- 
nähme begriffene Stadtbevölkerung, alle möglichen technischen 
Vorkehrungen, die das Leben erleichtern, und endlich Schön- 
heit, die das Leben mit Freude erfüllen soll. Dieser Fort 
schritt war mit den alten Stadtteilen, so wie er sie antraf, 
nicht zufrieden. Die Gassen waren ihm teils zu eng, teils 
zu krumm, die Plätze zu klein und allzu geschlossen, zu 
gemächerartig, die Wohnhäuser zu niedrig und der ganze 
Stadtbereich zu beschränkt, um die zuströmende Menschen 
menge zu beherbergen. Dieser Fortschritt mit seinen 
gleißenden Gaben stand an der Wiege unserer großstädtischen 
Bauordnungen, die in den letzten fünfzig Jahren die neue 
Ordnung der Dinge geschaffen haben. Die alten Straßen 
wurden eingerissen und erweitert, die Geschlossenheit der 
Plätze wurde aufgetan, neue Vorstädte der alten Innenstadt 
angehängt und kein Denkmal, keine Überlieferung geschont. 
Niemand erwartete zunächst eine Schonung von Kunst- und 
Gefühlswerten, weil es eine ganz lächerliche Sache wäre, 
einen Pardon zu verlangen, wenn es irgend jemandes Geld 
beutel berührt und jenen Fortschritt hemmt, der vorgibt, so 
viel Gutes und Besseres an Stelle des Alten zu setzen. Man 
kann heute die Großstädte, im Sinne der bestehenden Bau 
ordnungen, als fertig ausgebaut betrachten, wenn man von 
einigen Resten alter Schönheit, die von der Demolierungswut, 
wie durch ein unbegreifliches Wunder, verschont blieben, 
absieht. Nun es einmal so weit gekommen, ist die all- 
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