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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

Das Speisezimmer im amerikanischen Wohnhause. (Text Seite 97.) 
sittung und entwickelte Fähigkeit. Ein Mensch, der Kultur 
im vollen Sinne des Wortes hat, ist durchaus gesittet. Nicht 
bloß äußerlich, denn Kultur ist mehr als Schliff, auch innerlich. 
Er hat die Form. Er besitzt die Herrschaft über sich und 
seine Mittel. Ein Mensch, der diese Kultur hat, kann nicht 
schecht sein. 
Schlechtigkeit ist Dummheit, Schwäche oder Krankhaftigkeit. 
Entweder hat die Erziehung nachzuholen oder der Arzt. 
Aber ein Mensch, der die vollkommene Bildung seiner Kräfte 
erlangt hat, der also Kultur besitzt, hat kein Interesse etwas 
zu tun, was gegen seine Art ist. Er lebt von dem Guten, 
das er der Welt gibt und je mehr der Individualismus ent' 
wickelt ist, desto mehr wird die Welt empfangen und geben 
können. Sie wird umsomehr für alle besitzen, wenn es 
keinen Sinn haben und moralisch verwerflich erscheinen wird, 
die Kräfte zum Anhäufen von unfruchtbarem Vermögen, 
von Reichtum, der nicht Leben ist, zu mißbrauchen, wenn 
also auch diese Kräfte für die gemeinsame Arbeit fruchtbar 
werden. 
Dann werden auch die gefährlichsten Feinde der Kultur' 
entwicklung fallen müssen, die Spekulation in den ver' 
schiedenen Bewucherungsformen, als Bodenwucher, Lebens' 
mittelwucher, Kornwucher und endlich die BewucherungS' 
arten der Arbeitskraft in industrieller Form. Es braucht nicht 
erst bewiesen werden, daß diese Spekulationen die schlimmsten 
Hemmnisse des Fortschrittes sind, sie saugen an dem Mark 
der Volkskraft und erzeugen die schroffen sozialen Mißstände, 
die von der bestehenden Volkswirtschaft als gesetzmäßig 
erkannt und — verteidigt werden. 
In die Praxis übertragen, bedeutet diese neue Sittenlehre die 
Abschaffung der Armut, zumindest der Armut in jener 
beleidigenden, schmutzigen Form der Entbehrung von allen 
Notwendigkeiten des Lebens. Wenn sich die Kräfte und 
Talente des Volkes zu wahrhaft fruchtbringender Arbeit ent' 
wickeln sollen, dann kann es nur unter dieser Voraussetzung 
geschehen. Es wird geschehen, indem die Billigkeit atu Kosten 
der Arbeitskraft unmöglich gemacht werden wird. Die 
Arbeiterschaft, die sich organisiert, wird es dahin bringen — 
einzelne künstlerische Betriebe und Werkstätten haben die 
Idee bereits verwirklicht — daß die berechtigten Ansprüche 
der Arbeiter nach Maßgabe der Kulturhöhe und Kulturmittel 
unserer Zeit die Grundlage für die Preisbildung abgeben 
werden. Wenn diese Forderung verallgemeinert sein wird — 
sie wird es sein — wird jede Billigkeit auf hören müssen, 
die den Deckmantel für die Minderwertigkeit der Produkte 
abgeben mußte. Es wird sich nicht mehr verlohnen, schlechte 
Produkte herzustellen, wenn die Arbeit bezahlt werden muß, 
als ob gute Produkte erzeugt werden, und man wird schließlich 
die Zuflucht zur Qualität nehmen müssen, die heute schon 
den Sieg in der Konkurrenz davonträgt. 
Dann aber wird die Zeit gekommen sein, da sich das Gesetz 
der Kunst an den Dingen des Lebens erfüllt, da Arbeit und 
Kunst wieder zur alten Einheit vermählt sind und Würde 
und Ansehen im öffentlichen Dasein nicht von den zweifeh 
haften und anrüchigen Erfolgen der Plusmacherei, nicht vom 
Vermögensbesitz, sondern von der Arbeit, von der Fähigkeit, 
dem Talent, also von der hochkultivierten Persönlichkeit 
des schöpferischen Menschen abhängen wird. Die Arbeit 
wird dann der Ausdruck entwickelter Menschlichkeit sein, 
der Betätigung des Klassenbewußtseins wird die Entfaltung 
des fruchtbaren Individualismus folgen und der widerwillige 
Staat wird daran glauben müssen, daß dem Talent die 
Führung gebührt. Die Erziehung (siehe Kapitel VI) wird 
dieser Tatsache Bestand und Dauer verleihen, durch die 
Bildung des kommenden Geschlechts, das diesem Glauben 
großgesäugt ist und eine wahre Volkswirtschaft des Talentes 
heraufführt. 
Die Erde mit allem, was sie birgt und trägt, mit ihren ge' 
heimen Kräften und Trieben, ihren Schätzen und ihrem 
Wachstum, ferner alles Kapital sind roher Stoff, niemandem 
gehörig und allen; sie sind nichts, wenn nicht der Mensch 
ist, sie zu beleben und in Kulturgüter umzuwandeln. Die 
einzige und wahre Wertquelle ist daher der Mensch und 
die bildende, schöpferische Kraft seines Talentes; er ist das 
höchste und wertvollste Gut, dessen Pflege und Entfaltung 
die wichtigste Aufgabe im Leben ist; er ist mit der wert' 
bildenden Kraft seines Talentes der eigentliche Inhalt der 
Volkswirtschaft. (Fortsetzung folgt.) 
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