Das Speisezimmer im amerikanischen Wohnhause. (Text Seite 97.)
sittung und entwickelte Fähigkeit. Ein Mensch, der Kultur
im vollen Sinne des Wortes hat, ist durchaus gesittet. Nicht
bloß äußerlich, denn Kultur ist mehr als Schliff, auch innerlich.
Er hat die Form. Er besitzt die Herrschaft über sich und
seine Mittel. Ein Mensch, der diese Kultur hat, kann nicht
schecht sein.
Schlechtigkeit ist Dummheit, Schwäche oder Krankhaftigkeit.
Entweder hat die Erziehung nachzuholen oder der Arzt.
Aber ein Mensch, der die vollkommene Bildung seiner Kräfte
erlangt hat, der also Kultur besitzt, hat kein Interesse etwas
zu tun, was gegen seine Art ist. Er lebt von dem Guten,
das er der Welt gibt und je mehr der Individualismus ent'
wickelt ist, desto mehr wird die Welt empfangen und geben
können. Sie wird umsomehr für alle besitzen, wenn es
keinen Sinn haben und moralisch verwerflich erscheinen wird,
die Kräfte zum Anhäufen von unfruchtbarem Vermögen,
von Reichtum, der nicht Leben ist, zu mißbrauchen, wenn
also auch diese Kräfte für die gemeinsame Arbeit fruchtbar
werden.
Dann werden auch die gefährlichsten Feinde der Kultur'
entwicklung fallen müssen, die Spekulation in den ver'
schiedenen Bewucherungsformen, als Bodenwucher, Lebens'
mittelwucher, Kornwucher und endlich die BewucherungS'
arten der Arbeitskraft in industrieller Form. Es braucht nicht
erst bewiesen werden, daß diese Spekulationen die schlimmsten
Hemmnisse des Fortschrittes sind, sie saugen an dem Mark
der Volkskraft und erzeugen die schroffen sozialen Mißstände,
die von der bestehenden Volkswirtschaft als gesetzmäßig
erkannt und — verteidigt werden.
In die Praxis übertragen, bedeutet diese neue Sittenlehre die
Abschaffung der Armut, zumindest der Armut in jener
beleidigenden, schmutzigen Form der Entbehrung von allen
Notwendigkeiten des Lebens. Wenn sich die Kräfte und
Talente des Volkes zu wahrhaft fruchtbringender Arbeit ent'
wickeln sollen, dann kann es nur unter dieser Voraussetzung
geschehen. Es wird geschehen, indem die Billigkeit atu Kosten
der Arbeitskraft unmöglich gemacht werden wird. Die
Arbeiterschaft, die sich organisiert, wird es dahin bringen —
einzelne künstlerische Betriebe und Werkstätten haben die
Idee bereits verwirklicht — daß die berechtigten Ansprüche
der Arbeiter nach Maßgabe der Kulturhöhe und Kulturmittel
unserer Zeit die Grundlage für die Preisbildung abgeben
werden. Wenn diese Forderung verallgemeinert sein wird —
sie wird es sein — wird jede Billigkeit auf hören müssen,
die den Deckmantel für die Minderwertigkeit der Produkte
abgeben mußte. Es wird sich nicht mehr verlohnen, schlechte
Produkte herzustellen, wenn die Arbeit bezahlt werden muß,
als ob gute Produkte erzeugt werden, und man wird schließlich
die Zuflucht zur Qualität nehmen müssen, die heute schon
den Sieg in der Konkurrenz davonträgt.
Dann aber wird die Zeit gekommen sein, da sich das Gesetz
der Kunst an den Dingen des Lebens erfüllt, da Arbeit und
Kunst wieder zur alten Einheit vermählt sind und Würde
und Ansehen im öffentlichen Dasein nicht von den zweifeh
haften und anrüchigen Erfolgen der Plusmacherei, nicht vom
Vermögensbesitz, sondern von der Arbeit, von der Fähigkeit,
dem Talent, also von der hochkultivierten Persönlichkeit
des schöpferischen Menschen abhängen wird. Die Arbeit
wird dann der Ausdruck entwickelter Menschlichkeit sein,
der Betätigung des Klassenbewußtseins wird die Entfaltung
des fruchtbaren Individualismus folgen und der widerwillige
Staat wird daran glauben müssen, daß dem Talent die
Führung gebührt. Die Erziehung (siehe Kapitel VI) wird
dieser Tatsache Bestand und Dauer verleihen, durch die
Bildung des kommenden Geschlechts, das diesem Glauben
großgesäugt ist und eine wahre Volkswirtschaft des Talentes
heraufführt.
Die Erde mit allem, was sie birgt und trägt, mit ihren ge'
heimen Kräften und Trieben, ihren Schätzen und ihrem
Wachstum, ferner alles Kapital sind roher Stoff, niemandem
gehörig und allen; sie sind nichts, wenn nicht der Mensch
ist, sie zu beleben und in Kulturgüter umzuwandeln. Die
einzige und wahre Wertquelle ist daher der Mensch und
die bildende, schöpferische Kraft seines Talentes; er ist das
höchste und wertvollste Gut, dessen Pflege und Entfaltung
die wichtigste Aufgabe im Leben ist; er ist mit der wert'
bildenden Kraft seines Talentes der eigentliche Inhalt der
Volkswirtschaft. (Fortsetzung folgt.)
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