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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

Früher konnte man die Zeugnisse als eine Notwendigkeit 
betrachten, da die Eltern erst dadurch einen Überblick über 
den Fortgang des Lernens ihrer Kinder erhielten. Jetzt ist 
dies anders. Die Eltern verfolgen im allgemeinen den Untere 
rieht und die Arbeit in der Schule und erhalten während 
des Schuljahres die notwendigen Auskünfte über die Fort 
schritte des Kindes. Die Schule muß ihren Verpflichtungen 
in dieser Hinsicht nachkommen und die Eltern über den 
Studiengang ihres Kindes im laufenden Jahre genau in 
formieren. Die Samschule hat hauptsächlich aus diesen 
Gründen beschlossen, den Kindern keine Termin- oder 
Jahreszeugnisse auszustellen. 
Anderseits erkannte die Schule die Notwendigkeit, ihr Urteil 
über jedes Kind im Laufe des Jahres dann und wann 
schriftlich zusammenzufassen und den Eltern mitzuteilen. 
FERIENARBEITEN. 
Der allgemeine Wunsch, daß die Kinder während der langen 
Ferienzeit nicht ganz müßig sein sollten, bestimmte die 
Einführung der Ferienarbeit. 
Die Erfahrung zeigt jedoch, daß eine Änderung in der Form 
der Ferienarbeiten eintreten müsse. 
Die Ferienarbeit liegt wie eine Last auf dem Gewissen der 
jungen Menschen und läßt sie ihre Ferienzeit nicht im vollen 
Umfange genießen. Hauptsächlich aus diesem Grunde ist 
die Forderung der Ferienaufgaben als einer Zwangsarbeit 
in der Samschule entfallen und sind diese Arbeiten auf 
Freiwilligkeit begründet. 
Die Schule hat bei Beginn des neuen Schuljahres von ihren 
Schülern nichts zu fordern. 
Die Reformen, welche jetzt in dem Unterricht und der Er 
ziehung erwartet werden, sind von überaus ernster Art. 
Es handelt sich dabei nicht bloß um Verbesserungen, sondern 
vielmehr um die Grundlage ganz neuer Prinzipien. 
An der Spitze dieser Forderungen steht diejenige, daß im 
Unterricht und in der Erziehung auf das Recht des Kindes 
Rücksicht genommen wird. Ebenso wie in das Leben der 
Erwachsenen kann auch in das des Kindes ein unberechtigter 
Eingriff gemacht werden. 
Der Erzieher muß genau die Grenzen seines eigenen Rechtes 
sowie auch die Rechte des Kindes kennen. 
Ein Beweis dafür, daß das Vorhergesagte eine Hauptfrage 
in der Reformarbeit bildet, wird durch den Umstand erbracht, 
daß alle Gedanken sich mit dem jetzigen Religionsunterricht 
und dessen Reform befassen. 
Der Unterricht und die Erziehung greifen in das innerste 
Wesen des Kindes ein. Und hier beabsichtigt man nun, das 
ursprüngliche Recht des Kindes vor allem zu schützen. Bei 
dem früheren Erziehungssystem wurde dieses Recht zumeist 
unterdrückt und gekränkt. Darum soll die Durchführung 
einer vollen Religionsfreiheit mit Rücksicht auf die Schüler 
die Hauptfrage bei der Unterrichtsreform selbst sein. Es 
handelt sich hier um den Unterschied, der zwischen dem 
Unterricht in dem Fache: Religion oder Christentum und 
der Erziehung zu einer gewissen Überzeugung oder einem 
Bekenntnisse gemacht werden muß. Nur bei einer falschen 
Auffassung wird der Lehrer letzteres als seine Pflicht be 
trachten. 
Der Lehrer muß diese Dinge genau voneinander unter 
scheiden und es als seine einzige Aufgabe betrachten, die 
freie Überzeugung durch seinen Unterricht zu fördern. 
Dieser muß so geleitet werden, daß durch ihn die Ent 
wicklung einer möglichst selbständigen Überzeugung be 
wirkt wird. 
Die Schule drängt den Schüler zu keiner bestimmten Über 
zeugung, sondern gibt ihm vielmehr die Gelegenheit, sich 
eine solche selbst zu bilden. Im übrigen muß bei dem Religions 
unterricht mehr als bei den anderen Fächern auf das Recht 
der Eltern Rücksicht genommen werden. Die Schule muß 
im allgemeinen bestrebt sein, den Unterricht im Sinne des 
diesbezüglichen Übereinkommens mit den Eltern zu leiten 
und hiebei das größte Entgegenkommen zu zeigen. Das ist 
besonders bei der Erteilung des Religionsunterrichts notwendig. 
Der Religionsunterricht ist daher in der Samschule in der 
Beziehung frei, daß die Eltern die Kinder in den niederen 
Klassen von demselben dispensieren lassen können. In den 
höheren Klassen muß die Schule das größte Gewicht auf die 
eigenen Wünsche und den Standpunkt der Kinder selbst legen. 
Wenn die Schule auf dem empfindlichsten Gebiet das Freiheits 
prinzip durchführt, wird die Freiheit des Kindes sich nach 
und nach auch in allen übrigen Richtungen hin entfalten. 
Die Freiheit im Spiel, in den Bewegungen, in der eigenen 
Initiative auf allen Gebieten des Unterrichts, Freiheit im 
Wesen und Verhalten in der Schule, in Worten und im 
Handeln. 
Das jetzige Erziehungsproblem wird somit in seinen Haupt 
zügen gelöst sein. 
ES TRIFFT SICH ZUFÄLLIG, DASS ICH ET 
WAS PRAKTISCHE BEZIEHUNG MIT SCHU 
LEN FÜR DIE JUGEND VERSCHIEDENER 
GESELLSCHAFTSKLASSEN HABE UND 
ICH ERHALTE VIELE BRIEFE VON ELTERN 
IN BEZUG AUF DIE ERZIEHUNG IHRER 
KINDER. UNTER DER MASSE DIESER BRIE 
FE FALLT MIR IMMER AUF, WIE SEHR DER 
GEDANKE AN EINE „LEBENSSTELLUNG“ 
ALLE ANDEREN GEDANKEN DER ELTERN 
UND BESONDERS DER MÜTTER ÜBER 
WIEGT. „DIE ERZIEHUNG, WELCHE FÜR 
DIESE ODER JENE LEBENSSTELLUNG BE 
FÄHIGT“ — DAS IST IMMER DIE REDE, UM 
DIE SICH ALLES DREHT. SIE SUCHEN, SO 
WEIT ICH ES BEURTEILEN KANN, NIE 
MALS EINE AN SICH GUTE ERZIEHUNG; 
JA, DIE BRIEFSCHREIBER SCHEINEN NUR 
IN SELTENEN FÄLLEN EINEN KLAREN 
BEGRIFF VON ABSTRAKTER RICHTIGKEIT 
DER ERZIEHUNG ZU HABEN. ABER EINE 
ERZIEHUNG, „DIE MEINEM SOHNE EINEN 
WARMEN ROCK VERSCHAFFT; — DIE IHN 
BEFÄHIGT, MIT SELBSTBEWUSSTSEIN IN 
VORNEHMEN HÄUSERN BESUCH ZU MA 
CHEN; — KURZ, DIE IHM EIN VORWÄRTS 
KOMMEN IM LEBEN VERSPRICHT; — DAS 
IST ES, WAS WIR KNIEFÄLLIG ERBITTEN 
— UND DAS IST ALLES, UM WAS WIR 
BITTEN.“ JOHN RUSKIN. 
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