MEIN ABENDMÄRCHEN.
VON JOHANN FRIEDRICH, BIELITZ.
etzt muss ich innehalten, es kommt mein Freund zu mir ins
Kämmerlein, der ABEND. Mein bester, mein einziger
Freund, seit meine gute Grossmutter auch in der Erde liegt.
Der Abend macht es genau so, wie sie's zu tun pflegte, lässt
seine kühle Hand auf meiner heissen Stirne ruh'n und verdeckt
mir die Augen. Dabei wird es dann IN mir rege wie in einem
Märchengebäude. Wie durch Stiegen und Gänge huscht es
durch die Blutadern dahin, Scharen von kleinen Zwergen mit
Lichtäuglein. An den Fenstern im innersten Kämmerlein des
Gehörorgans lassen sie silberne Rollbalken niedergleiten, da
verstummt der Lärm der Welt, an den Pupillen des Auges
ziehen sie Vorhänge herab aus purpurdunkler Seide, da ent
schweben die Farben der Welt, und mitten im Gehirn stellen
sie ihre kleine Zauberlaterne auf, die hat einen grüngold'nen
Schirm und wirft ein Licht in den Saal meiner Seele, ein Licht
so blaufarben und harzduftig, wie es mein lieber Heimatswald
an schönsten Sommermittagen in seiner tiefsten Tiefe eigen
hat. Und alles in mir erbebt nun von dem Treppauf-Treppab
der kleinen Geister, wundersam liegt’s in den Nerven wie Kraft
und Gesundheit, in der Nase erwacht lenzfreudiger Erdgeruch
und im Munde der Geschmack guten, heimatlichen Kornbrotes,
wie ich es als Knabe so sorglos aus der Tischlade genommen.
Die Lungen fühlen sich erfrischt, als ob sie Alpenluft, sonn
erwärmten Gras- und Quellenodem einsögen; meine kleinen
Hausgeister blasen darin alle Röhrchen, alle kleinsten Luftlöcher
rein, dass das Blut perlt wie frisch eingegossener Champagner.
Und allmählich fühl' ich auch, wie sie mir übers Herz kommen;
auch DA scheinen sie etwas WEGZUNEHMEN, es schlägt
leichter, freudiger, kräftiger, was tagsüber im hellen Sonnenlichte
darauf gelastet, ist fortgeflogen, und nun bin ich ihnen ganz hin
gegeben, den Dämmerkobolden, und lausche in mich hinein,
wie sie ihr Unwesen treiben, wie sie einander Befehle geben,
wie sie dort- und dahineilen und noch etwas Letztes gutmachen,
sänftigen, in Ordnung bringen. □
Im Saal der Seele, im waldgrünen Licht der Zauberlaterne ver
sammeln sie sich dann. Einige sind noch beschäftigt mit den
purpurnen Seidenvorhängen an den Guckfenstern, an den Augen.
Ich höre, wie sie flüstern: „Es ist zum Tollwerden; tagein, tag
aus diese weissen Papierblätter mit den winzigen Schriftzeichen
und Drucklettern. Und alles in so schrecklicher, zudringlicher
Nähe. Wie war es doch schön in dem frühem Hause; da sah
man selten solch teuflisches Lese- und Schreibgeziffer; weit,
weit Berge und Wälder, blauende Felszüge und Wolken, tiefe
Täler und Schluchten. Das hat uns weitsichtig gemacht, jetzt
sollen wir auf einmal kurzsichtig sein. Kein Tag, wo wir nicht
der Sonne ins gold'ne Angesicht schauten, die blaue Himmels
kuppel durchmassen und die Wetteraussicht prüften an der
Reinheit und Deutlichkeit des weiten Horizontes.“ Sie haben
die Purpurseide nun vollends zugezogen und kauern behaglich
in den Fensterwinkeln. D
Jetzt spüre ich, wie mir der Federstiel aus der Hand gleitet;
ich wusste gar nicht, dass ich ihn noch immer gehalten; müd'
und ruhewillig sinkt die Hand auf die grüne Tischdecke und
im nächsten Augenbick öffnet sich im Saal der Seele ein
geheimes Türchen und herein huscht eine Schar teils lachender,
teils unwilliger kleiner Gesellen. Sie scheinen die letzten Worte
der Fenstergucker noch gehört zu haben und setzen gleich das
Gespräch fort: „Strichauf, Strichab, Haarstrich, Schattenstrich.
Wir können's jetzt wahrhaftig schon gut genug. Aber man wird
elendig schwächlich dabei. In früheren Zeiten, im alten Hause,
da gab’s ein ander Arbeiten: den Pflug in die Erde drücken,
damit er recht tiefe Furchen schneide; die Holzaxt schwingen,
dass die Keile zerspalten wegflogen vom Hackstock; die ge
fällten Baumriesen auf den Wagen laden, das Heu zerschütten,
das Korn schneiden. Nein, wir sind mit dem neuen Hausherrn
gar nicht zufrieden. Was soll denn auch dies Kinderspielzeug,
das wir da immer strichauf-strichab führen müssen. Ist's ein
Zauberstäbchen, mit dem er sich Glück verschafft? Ich glaube,
das können wir wohl alle sagen, von dem Glück spüren wir
bitter wenig.“ Und ein paar dieser kecken Gesellen hatten noch
nicht genug geschnattert, die wussten noch eine Zugabe: „Von
uns sind heute wieder eine ganze Menge eingegangen, jämmer
lich zusammengeschrumpft. Wir sind alle miteinander vererbt
worden vom alten Hausherrn an den neuen; der braucht uns
nicht, lässt uns müssig sein, und das heisst für uns sterben. Er
beschäftigt immer nur eine kleine Auslese, und die schickt er
vor in die Fingerspitzen. Die dünnen Papierblätter wenden, in
den Federhalter sich eindrücken, bis wir tintige Gesichter haben,
bald schwarze, bald rote, das ist unser Arbeitsprogramm.“ □
Und da diese paar Allzufleissigen auch schon zu Ende waren
mit ihrer Weisheit und sich im Saal der Seele an den dunklen
Wänden zur Ruhe setzten, flüsterten noch zwei, drei sonderbare
Käuzlein weiter; sie standen an der Grenze, wo das grüne
Licht in den Schatten überging, und hatten im Gesicht kleine,
glitzernde Flecken wie von Flittergold, das trotz allen Waschens
nicht wegzubringen wäre: „Uns Zeigefinglern geht’s besser im
neuen Leben; keine Beengung durch gold'ne Ringfessel wie in
den früheren Zeiten immer — — — —“ Nach dieser Rede
aber war es, als ob von den vielen andern sich einige heimlich
Zuwinkten, sie wüssten etwas — — — es würde vielleicht bald
den guten Zeigefinglern wieder das Kleidchen enger zugemessen
— — — es würde wieder ein gold’nes Ringlein kommen, das
aber nicht drücken, o nein, nicht drücken, sondern einen gold'nen
Schein in alle ihre Gesichter strahlen würde; und wenn dies
Ringlein käme, dann brächte es wohl einen Feiertag, einen
fröhlichen Aufruhr ins ganze Haus — — — — Geduldet euch
nur, Zeigefingler — — — d
Ich höre noch fern eine Eisenbahn pfeifen und rollen, eine
Abendglocke läuten, Menschen auf den Strassen geh’n und
reden — — — — Da kommen abermals durch ein geheimes
Pförtlein ein paar solcher Hutzelmännlein in den Saal der Seele
herein, hastig, trippelnd, zappelnd. „Um Gottes willen,“ sagen
sie, „helft uns suchen; wir finden die Sperrschlüsslein nicht für
die Rollbalken.“ — Sie meinen die silbernen Rollbalken, die
sie vor dem innersten Kämmerlein des Gehörs niederzieh’n. Und
wirklich, während die im Saal der Seele nach dem Schlüsslein
suchen, scheinen sich diejenigen, welche in den Stiegengängen
des Ohres zurückgeblieben, mit allerlei Spiel zu belustigen. Sie
ziehen die Rollbalken nieder und lassen sie wieder in die Höhe
schnellen, ich höre das Eisenbahnrollen, das Glockenläuten, die
Schritte der Menschen bald laut, bald ganz schwach; dann
scheinen einige im Cortischen Organ zu zupfen wie an einer
Harfe, ich höre alte Lieder, die ich als Kind einst sang und