Erde oder Fleisch und Blut. Das Beste kann immer nur den
Ursprung und Stempel im Persönlichen haben, niemals im All
gemeinen. Jedes grosse Werk, jedes Kunstwerk überhaupt, das
den Fortschritt bestimmt, ist ein Einzelfall, eine persönliche Sache,
keinesfalls ein Produkt der Allgemeinheit. □
Ich behaupte, dass die Allgemeinheit überhaupt keine Kunst
haben kann. Die Kunst, die sie liebt, besteht in Wiederholungen
und Verschlechterungen ursprünglicher Ideen, die in der Ver-
gangenheit liegen. Diese Kunst, die den Flamen nicht verdient,
ist kein Lebenswert, der neue Nahrung und neue Verfassung
gibt. Sie ist ein bunter Lappen an einem schmutzigen Wamms.
Diese Allgemeinheit lebt in schlechten Formen, in hässlichen
Häusern, in Dummheit, Gemeinheit und niederer Gier. Die
Kunst, die sie in ihren Ausstellungen zuweilen betrachtet, ist
zu gering und schwach, um an dieser Lebensverfassung zu
rütteln und Änderungen zu bewirken. Es ist eine Kunst, die
um das Wohlgefallen dieses Gesindels buhlt. □
Das ursprüngliche Kunstwerk, die Tat des Genies, kann dieser
Allgemeinheit nichts geben. Wie sollte es sich ihr verständlich
machen ? Die Allgemeinheit kann nur nehmen und lernen von
ihm, wenn sie reifer geworden, was sie leider niemals wird.
Alle Werke der Liebe und Schönheit geschehen aus Hass gegen
diese Allgemeinheit. Das Genie verlacht und verachtet sie und
geht einen Weg, den sie nicht vorgezeichnet hat. Der Staat,
der diese Allgemeinheit darstellt, der unpersönliche, objektive
Staat, hat allen Grund, die Tüchtigkeit des Genies zu fürchten.
Sie ist seiner Ruhe und Zufriedenheit gefährlich. Die Tüchtigen,
das sind die Gefährlichen. L.
SIENA UND SIMON MARTINI.
GENIUS LOCI. — VON VERNON LEE.
tädte haben ihre Schicksale, deren Spuren niemals völlig
aus ihrem steinernen Antlitz schwinden. Von dem nie
ganz ergründeten Geheimnis ihrer Vergangenheit um
geben, gleichen sie anziehenden Frauenbildnissen, die mit sachter
Hand wie im Traum den Schleier heben, um mehr zu ver
bergen als zu enthüllen. Aber die Sensibilität der Liebenden
— diese frauenhaften Städte können eine seltsame Liebe er
wecken, die vielleicht eine neue Empfindung unserer modernen
Zeit ist — vermeint das Rätselhafte zu ergreifen. Sie belebt
das Dunkel einer wenig gekannten Geschichte mit nervöser
Einbildungskraft; beschwört Menschen und Dinge, die sich
beim Anblick der äusseren Stadtumrisse plötzlich einstellen und
das Traumbild vollenden. Wie unfassbar und nebelhaft auch
die Vorstellung sein mag, so ist sie doch in ihrer empfindungs-
mässigen Zartheit bestimmt genug, vermenschlichte Züge in
erkennbarer Schärfe hervortreten zu lassen, die dem Stadt
wesen als ein Persönliches anhaften, als genius loci . . . Die
Menschen des Alltags sehen dieses zweite Gesicht ihrer eigenen
Stadt in der Regel nicht, obzwar es immer mit allen zauber
haften Geheimnissen in der Gegenwart ist und mit scheuer
Frömmigkeit verehrt zu werden verdient. Wir aber, die wir
diese frauenhaften Städte mit jener neuen Liebe umfassen,
stehen betroffen still, wo andere blind vorüberhasten, und
lauschen den jahrhundertfernen Stimmen; wir grüssen die ge
spenstigen Gäste in diesen Mauern und sehen in dem Unschein
barsten rätselhafte Schönheiten. Und geben den anderen eine,
wenn auch nicht immer vollwertige Andeutung dieser be
rückenden Gesichte, um ihren allzu beengten Nützlichkeitssinn
Zur Verehrung umzustimmen, soweit es möglich ist. □
Soviel möchte ich zugunsten des Buches „Genius loci" der
Vernon Lee (bei Eugen Diederichs zu Jena und Leipzig verlegt)
sagen und nun eine kleine Probe aus dem feinen Buche an
fügen, weil es hier nicht so sehr wichtig ist, was ich über
Städte denke und über Lees Städtebilder, sondern vielmehr was
Vernon Lee zu sagen weiss. Es ist eines ihrer feinsten Kapitel,
das handelt von: □
„SIENA UND SIMON MARTINI."
Innerhalb des Mittelalters gibt es noch ein besonderes Mittel-
alter; eine Gattung inmitten der allgemeinen Mittelalterlich-
keit, welche sozusagen ohne Nachkommenschaft geblieben ist,
ohne den späteren Zeiten etwas zu hinterlassen, das sie ver
feinern und vervollkommnen konnten: ein Mittelalter, das sich
niemals in etwas Modernes verwandeln konnte. Dies fiel mir
besonders auf, als ich, wohl zum zwölften Male, im frühen
Frühling dieses Jahres nach Siena zurückkehrte. Diese wunder
schöne Stadt, so einsam zwischen den hochliegenden Eichen
wäldern und halbkahlen Kugeln aus weisser, vulkanischer Ton
erde liegend, fand ihre Zivilisation — wie das Regenwasser
ihre Zisternen — im eigenen Haus; und, was noch charak
teristischer ist, sie liess sich, ohne Spuren einer früheren Zeit
und wenig oder gar keinen nachträglichen Zusätzen, zu einem
bestimmten Zeitpunkt, im vierzehnten Jahrhundert, erbauen,
gerade ehe die grosse Pestepidemie ausbrach. □
Von herrlichem rosenfarbenen Ziegelstein errichtet, mit zier
lichen Nischen und Bogenfenstern, mit Säulen, Zinnen und
Türmen, die wie Blumen überall aus der Ebene aufsteigen.
Fröhlich, einfach, wenn auch ein bisschen konventionell, und
noch immer ritterlich und romantisch; ein Ort, wo auch heute
junge Mädchen in den Strassen tanzen und in der Runde
singen könnten wie jene, denen der Knabe Dante am Aller
heiligentag begegnete, und wie sie Lorenzetti auf seinem grossen
Fresko abgemalt hat. Der Knabe Dante; denn mir scheint,
dass, wie sehr auch die „Göttliche Komödie" dem Altertum
entspringt und die Neuzeit und ewige Zukunft erschliesst, die
„Vita Nuova" doch ganz und gar dem Mittelalter angehört,
welches sozusagen jung und ohne Nachkommen gestorben ist,
dem Mittelalter des rosenfarbenen, zinnenreichen, vieltürmigen
Sienas. Die Griechen und Römer haben mit keinem der beiden
viel zu schaffen; und was die „Vita Nuova" betrifft, so ist
sie doch eigentlich nur die vollendete Blüte der mittelalter
lichen, ritterlich-mystischen Liebespoesie Giunicellis und Caval-
cantis, und provenzalischer Rudels, Vidals und Ventadours:
anmutig, konventionell, und doch so närrisch wie krauses
Hopfengerank. □
Dieses Mittelalter, das uns Siena verkörpert — denn Pisa er
zählt von älteren, halb byzantinischen Tagen und Florenz und
Venedig leben leidenschaftlich in der Renaissance weiter —,
dieses Mittelalter mit rosigen Mauern und gestreiften Türmen
(gerade so bezaubernd und spielschachtelmässig, wie die primi
tiven Maler, bis zu Angelico, sie liebten) hat uns unter anderen
vollkommenen Dingen die „Legendenbücher" des heiligen
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