MAK

Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

Erde oder Fleisch und Blut. Das Beste kann immer nur den 
Ursprung und Stempel im Persönlichen haben, niemals im All 
gemeinen. Jedes grosse Werk, jedes Kunstwerk überhaupt, das 
den Fortschritt bestimmt, ist ein Einzelfall, eine persönliche Sache, 
keinesfalls ein Produkt der Allgemeinheit. □ 
Ich behaupte, dass die Allgemeinheit überhaupt keine Kunst 
haben kann. Die Kunst, die sie liebt, besteht in Wiederholungen 
und Verschlechterungen ursprünglicher Ideen, die in der Ver- 
gangenheit liegen. Diese Kunst, die den Flamen nicht verdient, 
ist kein Lebenswert, der neue Nahrung und neue Verfassung 
gibt. Sie ist ein bunter Lappen an einem schmutzigen Wamms. 
Diese Allgemeinheit lebt in schlechten Formen, in hässlichen 
Häusern, in Dummheit, Gemeinheit und niederer Gier. Die 
Kunst, die sie in ihren Ausstellungen zuweilen betrachtet, ist 
zu gering und schwach, um an dieser Lebensverfassung zu 
rütteln und Änderungen zu bewirken. Es ist eine Kunst, die 
um das Wohlgefallen dieses Gesindels buhlt. □ 
Das ursprüngliche Kunstwerk, die Tat des Genies, kann dieser 
Allgemeinheit nichts geben. Wie sollte es sich ihr verständlich 
machen ? Die Allgemeinheit kann nur nehmen und lernen von 
ihm, wenn sie reifer geworden, was sie leider niemals wird. 
Alle Werke der Liebe und Schönheit geschehen aus Hass gegen 
diese Allgemeinheit. Das Genie verlacht und verachtet sie und 
geht einen Weg, den sie nicht vorgezeichnet hat. Der Staat, 
der diese Allgemeinheit darstellt, der unpersönliche, objektive 
Staat, hat allen Grund, die Tüchtigkeit des Genies zu fürchten. 
Sie ist seiner Ruhe und Zufriedenheit gefährlich. Die Tüchtigen, 
das sind die Gefährlichen. L. 
SIENA UND SIMON MARTINI. 
GENIUS LOCI. — VON VERNON LEE. 
tädte haben ihre Schicksale, deren Spuren niemals völlig 
aus ihrem steinernen Antlitz schwinden. Von dem nie 
ganz ergründeten Geheimnis ihrer Vergangenheit um 
geben, gleichen sie anziehenden Frauenbildnissen, die mit sachter 
Hand wie im Traum den Schleier heben, um mehr zu ver 
bergen als zu enthüllen. Aber die Sensibilität der Liebenden 
— diese frauenhaften Städte können eine seltsame Liebe er 
wecken, die vielleicht eine neue Empfindung unserer modernen 
Zeit ist — vermeint das Rätselhafte zu ergreifen. Sie belebt 
das Dunkel einer wenig gekannten Geschichte mit nervöser 
Einbildungskraft; beschwört Menschen und Dinge, die sich 
beim Anblick der äusseren Stadtumrisse plötzlich einstellen und 
das Traumbild vollenden. Wie unfassbar und nebelhaft auch 
die Vorstellung sein mag, so ist sie doch in ihrer empfindungs- 
mässigen Zartheit bestimmt genug, vermenschlichte Züge in 
erkennbarer Schärfe hervortreten zu lassen, die dem Stadt 
wesen als ein Persönliches anhaften, als genius loci . . . Die 
Menschen des Alltags sehen dieses zweite Gesicht ihrer eigenen 
Stadt in der Regel nicht, obzwar es immer mit allen zauber 
haften Geheimnissen in der Gegenwart ist und mit scheuer 
Frömmigkeit verehrt zu werden verdient. Wir aber, die wir 
diese frauenhaften Städte mit jener neuen Liebe umfassen, 
stehen betroffen still, wo andere blind vorüberhasten, und 
lauschen den jahrhundertfernen Stimmen; wir grüssen die ge 
spenstigen Gäste in diesen Mauern und sehen in dem Unschein 
barsten rätselhafte Schönheiten. Und geben den anderen eine, 
wenn auch nicht immer vollwertige Andeutung dieser be 
rückenden Gesichte, um ihren allzu beengten Nützlichkeitssinn 
Zur Verehrung umzustimmen, soweit es möglich ist. □ 
Soviel möchte ich zugunsten des Buches „Genius loci" der 
Vernon Lee (bei Eugen Diederichs zu Jena und Leipzig verlegt) 
sagen und nun eine kleine Probe aus dem feinen Buche an 
fügen, weil es hier nicht so sehr wichtig ist, was ich über 
Städte denke und über Lees Städtebilder, sondern vielmehr was 
Vernon Lee zu sagen weiss. Es ist eines ihrer feinsten Kapitel, 
das handelt von: □ 
„SIENA UND SIMON MARTINI." 
Innerhalb des Mittelalters gibt es noch ein besonderes Mittel- 
alter; eine Gattung inmitten der allgemeinen Mittelalterlich- 
keit, welche sozusagen ohne Nachkommenschaft geblieben ist, 
ohne den späteren Zeiten etwas zu hinterlassen, das sie ver 
feinern und vervollkommnen konnten: ein Mittelalter, das sich 
niemals in etwas Modernes verwandeln konnte. Dies fiel mir 
besonders auf, als ich, wohl zum zwölften Male, im frühen 
Frühling dieses Jahres nach Siena zurückkehrte. Diese wunder 
schöne Stadt, so einsam zwischen den hochliegenden Eichen 
wäldern und halbkahlen Kugeln aus weisser, vulkanischer Ton 
erde liegend, fand ihre Zivilisation — wie das Regenwasser 
ihre Zisternen — im eigenen Haus; und, was noch charak 
teristischer ist, sie liess sich, ohne Spuren einer früheren Zeit 
und wenig oder gar keinen nachträglichen Zusätzen, zu einem 
bestimmten Zeitpunkt, im vierzehnten Jahrhundert, erbauen, 
gerade ehe die grosse Pestepidemie ausbrach. □ 
Von herrlichem rosenfarbenen Ziegelstein errichtet, mit zier 
lichen Nischen und Bogenfenstern, mit Säulen, Zinnen und 
Türmen, die wie Blumen überall aus der Ebene aufsteigen. 
Fröhlich, einfach, wenn auch ein bisschen konventionell, und 
noch immer ritterlich und romantisch; ein Ort, wo auch heute 
junge Mädchen in den Strassen tanzen und in der Runde 
singen könnten wie jene, denen der Knabe Dante am Aller 
heiligentag begegnete, und wie sie Lorenzetti auf seinem grossen 
Fresko abgemalt hat. Der Knabe Dante; denn mir scheint, 
dass, wie sehr auch die „Göttliche Komödie" dem Altertum 
entspringt und die Neuzeit und ewige Zukunft erschliesst, die 
„Vita Nuova" doch ganz und gar dem Mittelalter angehört, 
welches sozusagen jung und ohne Nachkommen gestorben ist, 
dem Mittelalter des rosenfarbenen, zinnenreichen, vieltürmigen 
Sienas. Die Griechen und Römer haben mit keinem der beiden 
viel zu schaffen; und was die „Vita Nuova" betrifft, so ist 
sie doch eigentlich nur die vollendete Blüte der mittelalter 
lichen, ritterlich-mystischen Liebespoesie Giunicellis und Caval- 
cantis, und provenzalischer Rudels, Vidals und Ventadours: 
anmutig, konventionell, und doch so närrisch wie krauses 
Hopfengerank. □ 
Dieses Mittelalter, das uns Siena verkörpert — denn Pisa er 
zählt von älteren, halb byzantinischen Tagen und Florenz und 
Venedig leben leidenschaftlich in der Renaissance weiter —, 
dieses Mittelalter mit rosigen Mauern und gestreiften Türmen 
(gerade so bezaubernd und spielschachtelmässig, wie die primi 
tiven Maler, bis zu Angelico, sie liebten) hat uns unter anderen 
vollkommenen Dingen die „Legendenbücher" des heiligen 
278
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.