Ewig wird sich das zauberhafte Spiel wiederholen, und wir
können nicht wissen, welcher Art die Gesichte sein werden,
die aus dem geheimnisvollen Schoss der ringenden Urkräfte, zu
denen die künstlerische Kraft gehört, ans Tageslicht steigen
werden, um eine neue Herrschaft, aus dem Kontrast geboren,
Zu errichten. Die Kontrastwirkung ist das pfeilschnelle Vehikel,
auf dem die neue Schönheit über Nacht die erschreckte Mensch
heit überrascht, jlhr gespenstiger Blick, mit dem mythische
Zeiten die wunderlichen Götterbilder begabten, kann plötzlich
im hellichten Alltag erwachen und die hilflos widerstrebenden
Seelen in den Bannkreis ziehen. Was Schönheit ist, kann kein
Mensch endgültig sagen. Aber es ist sicher, dass keine Schön
heit ist, die nicht die teuflisch himmlische Marke des grotesken
Widerspruchs als Geburtsmal trägt. So ist selbst die Holdheit
der Madonnen an dem Geheimnis beteiligt; ihr Gnadentum
wäre minder bestrickend, läsen wir nicht in ihrem verwirrenden
Blick das Unergründliche, das sie mit ihren mondänen Schwe
stern bei Beardsley verbindet und das Mona Lisas entrücktes
Lächeln verschleiert. □
Die seltsamen Gebilde, die alle das Zeichen ihrer übermensch
lichen Herkunft tragen, rücken aus den Weltentiefen als leuch
tende Gestirne am Horizonte zusammen, und stärker denn je
sind die Heutigen von den magischen Gewalten beeinflusst.
Schwächliche Epigonenkunst weiss allerdings von nichts; blind
geboren, wird sie auch niemals unter den Sternen aufziehen.
Hausbackene Ästhetik vom Anmutigen und Erhabenen richtet
Blindmauern auf, die zwar von den Gezeiten hochflutender
Kunstregungen überspült werden, aber immerhin noch lange
genug als Schlupfwinkel falscher Sentimentalitäten Vorhalten.
Alles, was der Biedermeierei angehört, das Kleinmachen,
Beschönigen, jede Art von Süsslichkeit, empfindsamer Verlogen
heit, hat darin ein Obdach gefunden. Rücksichtslos darf das
moderne Kunstgefühl das Gegenteil behaupten, der Empfind
samkeit, der Komik, dem süsslichen Genre von gestern ihre
Reizsamkeit, ihre Satire, ihre Groteske entgegensetzen. Die
vergissmeinnichtblaue Kleinbürgerästhetik, die im Anmutigen
schwelgt wie ein munteres Böcklein im Wiesengrün, hat nur
einen scheuen Blick für die „unreine Kunst“ des Grotesken
und Erhabenen, deren Wesen für sie in dem unverarbeiteten
Übermass des Substanziellen besteht. Nun hat das Erhabene
und Monumentale in der Steigerung des Grotesken keinesfalls
allein in Kolossalitäten bestanden, sondern es hat ebensogut
seine Kraft in den kleinsten Dingen entfaltet. Anderseits ist
die groteske Phantasie durchaus nicht allein die Domäne der
Graphiker und der englischen Clowns gewesen, weil es heute
so scheint. Zu allen Zeiten hat sie mit karikaturistischer Schärfe
an den Gerätschaften, den Waffen und Rüstungen das Leben
abgeschildert, eine Art Scherbengericht in der Zeichnung und
Bemalung der Töpfe, Vasen, Geschirre, Kacheln, als grotesken
Lebensspiegel; sie hat ihre Gleichnisse in Schwertstichblätter
graviert, in Münzen geschnitten, in Edelmetall der Prunkgefässe
getrieben, in Wandteppichen verwoben, auf Schilder ziseliert,
und schliesslich hat sie die Darstellung von den Gegenständen
und Materialien losgelöst und als Selbstzweck an das Volk
weitergegeben in Form von Holzschnitten, Radierungen, Litho
graphien, um dem Unerwarteten, dem Genialischen als Zeitung
Zu dienen. Hier wirkt das Groteske schöpferisch in weitem
Umfange. Künstler Hessen die Staffelei im Stich, weil sie im
Bild ihr Wesen nicht auszudrücken vermögen und weil die
Überzeugung immer mächtiger wird, wie zwecklos die Malerei
ist, wenn sie nicht das alte Wunder erneut. Die Zeichner des
Simplicissimus wissen wohl, dass sie am produktivsten wirken,
wie sie es tun. Nicht nur die Darstellung des Lebensbildes und die
überwältigenden Symbole der übermenschlichen Mächte, sondern
auch die gewöhnlichen Dinge des Gebrauches verraten den
Hang zum Grotesken, als den beständigen Trieb nach Erneue
rung, der sie zum Gegenstand der Kunst macht. Altgotische
Räume gibt es, die gespenstisch sind wie Mackintosh' Raum
dichtungen; Krüge und Vasen, deren Formen und Grössen
ins Ungewöhnliche gesteigert sind; Trinkgefässe werden über
liefert von erstaunlicher Becherweite mit phantastisch gross
herausgetriebenen Buckeln; andere sind, die das Extrem in der
Form ungeheurer Henkel suchen, und es tektonisch rechtfertigen,
wie immer der Kontrast gefunden wird. Die Form, auf die es
jeweilig ankommt, so gross als möglich zu nehmen, ist das
wichtigste Gesetz der genialen Kunst des Grotesken. LUX.
ES GIBT KEINEN GUTEN EINFLUSS. JEDER EINFLUSS
IST, WISSENSCHAFTLICH BETRACHTET, UNMORA
LISCH. UND ZWAR, WEIL JEMAND BEEINFLUSSEN
DASSELBE IST, WIE IHM EINE FREMDE SEELE GEBEN.
ER DENKT NICHT MEHR SEINE NATÜRLICHEN GE
DANKEN. ER WIRD NICHT MEHR VON SEINEN
NATÜRLICHEN LEIDENSCHAFTEN VERZEHRT. SEINE
TUGENDEN GEHÖREN NICHT MEHR IHM. SELBST
SEINE SÜNDEN, WENN ES SÜNDEN GIBT, SIND ENT
LIEHEN. ER WIRD ZUM ECHO DER TÖNE EINES
ANDEREN, ZUM SCHAUSPIELER EINER ROLLE, DIE
NICHT FÜR IHN GESCHRIEBEN WURDE. DAS ZIEL
DES LEBENS IST SELBSTENTWICKLUNG. DAS EIGENE
WESEN ZUM AUSDRUCK ZU BRINGEN — DAZU SIND
WIR AUF DIESER ERDE. HEUTZUTAGE FÜRCHTET
MAN SICH VOR SICH SELBST. MAN HAT DIE HÖCHSTE
PFLICHT VERGESSEN: DIE PFLICHT GEGEN SICH
SELBST. OSCAR WILDE.
302