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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

Ewig wird sich das zauberhafte Spiel wiederholen, und wir 
können nicht wissen, welcher Art die Gesichte sein werden, 
die aus dem geheimnisvollen Schoss der ringenden Urkräfte, zu 
denen die künstlerische Kraft gehört, ans Tageslicht steigen 
werden, um eine neue Herrschaft, aus dem Kontrast geboren, 
Zu errichten. Die Kontrastwirkung ist das pfeilschnelle Vehikel, 
auf dem die neue Schönheit über Nacht die erschreckte Mensch 
heit überrascht, jlhr gespenstiger Blick, mit dem mythische 
Zeiten die wunderlichen Götterbilder begabten, kann plötzlich 
im hellichten Alltag erwachen und die hilflos widerstrebenden 
Seelen in den Bannkreis ziehen. Was Schönheit ist, kann kein 
Mensch endgültig sagen. Aber es ist sicher, dass keine Schön 
heit ist, die nicht die teuflisch himmlische Marke des grotesken 
Widerspruchs als Geburtsmal trägt. So ist selbst die Holdheit 
der Madonnen an dem Geheimnis beteiligt; ihr Gnadentum 
wäre minder bestrickend, läsen wir nicht in ihrem verwirrenden 
Blick das Unergründliche, das sie mit ihren mondänen Schwe 
stern bei Beardsley verbindet und das Mona Lisas entrücktes 
Lächeln verschleiert. □ 
Die seltsamen Gebilde, die alle das Zeichen ihrer übermensch 
lichen Herkunft tragen, rücken aus den Weltentiefen als leuch 
tende Gestirne am Horizonte zusammen, und stärker denn je 
sind die Heutigen von den magischen Gewalten beeinflusst. 
Schwächliche Epigonenkunst weiss allerdings von nichts; blind 
geboren, wird sie auch niemals unter den Sternen aufziehen. 
Hausbackene Ästhetik vom Anmutigen und Erhabenen richtet 
Blindmauern auf, die zwar von den Gezeiten hochflutender 
Kunstregungen überspült werden, aber immerhin noch lange 
genug als Schlupfwinkel falscher Sentimentalitäten Vorhalten. 
Alles, was der Biedermeierei angehört, das Kleinmachen, 
Beschönigen, jede Art von Süsslichkeit, empfindsamer Verlogen 
heit, hat darin ein Obdach gefunden. Rücksichtslos darf das 
moderne Kunstgefühl das Gegenteil behaupten, der Empfind 
samkeit, der Komik, dem süsslichen Genre von gestern ihre 
Reizsamkeit, ihre Satire, ihre Groteske entgegensetzen. Die 
vergissmeinnichtblaue Kleinbürgerästhetik, die im Anmutigen 
schwelgt wie ein munteres Böcklein im Wiesengrün, hat nur 
einen scheuen Blick für die „unreine Kunst“ des Grotesken 
und Erhabenen, deren Wesen für sie in dem unverarbeiteten 
Übermass des Substanziellen besteht. Nun hat das Erhabene 
und Monumentale in der Steigerung des Grotesken keinesfalls 
allein in Kolossalitäten bestanden, sondern es hat ebensogut 
seine Kraft in den kleinsten Dingen entfaltet. Anderseits ist 
die groteske Phantasie durchaus nicht allein die Domäne der 
Graphiker und der englischen Clowns gewesen, weil es heute 
so scheint. Zu allen Zeiten hat sie mit karikaturistischer Schärfe 
an den Gerätschaften, den Waffen und Rüstungen das Leben 
abgeschildert, eine Art Scherbengericht in der Zeichnung und 
Bemalung der Töpfe, Vasen, Geschirre, Kacheln, als grotesken 
Lebensspiegel; sie hat ihre Gleichnisse in Schwertstichblätter 
graviert, in Münzen geschnitten, in Edelmetall der Prunkgefässe 
getrieben, in Wandteppichen verwoben, auf Schilder ziseliert, 
und schliesslich hat sie die Darstellung von den Gegenständen 
und Materialien losgelöst und als Selbstzweck an das Volk 
weitergegeben in Form von Holzschnitten, Radierungen, Litho 
graphien, um dem Unerwarteten, dem Genialischen als Zeitung 
Zu dienen. Hier wirkt das Groteske schöpferisch in weitem 
Umfange. Künstler Hessen die Staffelei im Stich, weil sie im 
Bild ihr Wesen nicht auszudrücken vermögen und weil die 
Überzeugung immer mächtiger wird, wie zwecklos die Malerei 
ist, wenn sie nicht das alte Wunder erneut. Die Zeichner des 
Simplicissimus wissen wohl, dass sie am produktivsten wirken, 
wie sie es tun. Nicht nur die Darstellung des Lebensbildes und die 
überwältigenden Symbole der übermenschlichen Mächte, sondern 
auch die gewöhnlichen Dinge des Gebrauches verraten den 
Hang zum Grotesken, als den beständigen Trieb nach Erneue 
rung, der sie zum Gegenstand der Kunst macht. Altgotische 
Räume gibt es, die gespenstisch sind wie Mackintosh' Raum 
dichtungen; Krüge und Vasen, deren Formen und Grössen 
ins Ungewöhnliche gesteigert sind; Trinkgefässe werden über 
liefert von erstaunlicher Becherweite mit phantastisch gross 
herausgetriebenen Buckeln; andere sind, die das Extrem in der 
Form ungeheurer Henkel suchen, und es tektonisch rechtfertigen, 
wie immer der Kontrast gefunden wird. Die Form, auf die es 
jeweilig ankommt, so gross als möglich zu nehmen, ist das 
wichtigste Gesetz der genialen Kunst des Grotesken. LUX. 
ES GIBT KEINEN GUTEN EINFLUSS. JEDER EINFLUSS 
IST, WISSENSCHAFTLICH BETRACHTET, UNMORA 
LISCH. UND ZWAR, WEIL JEMAND BEEINFLUSSEN 
DASSELBE IST, WIE IHM EINE FREMDE SEELE GEBEN. 
ER DENKT NICHT MEHR SEINE NATÜRLICHEN GE 
DANKEN. ER WIRD NICHT MEHR VON SEINEN 
NATÜRLICHEN LEIDENSCHAFTEN VERZEHRT. SEINE 
TUGENDEN GEHÖREN NICHT MEHR IHM. SELBST 
SEINE SÜNDEN, WENN ES SÜNDEN GIBT, SIND ENT 
LIEHEN. ER WIRD ZUM ECHO DER TÖNE EINES 
ANDEREN, ZUM SCHAUSPIELER EINER ROLLE, DIE 
NICHT FÜR IHN GESCHRIEBEN WURDE. DAS ZIEL 
DES LEBENS IST SELBSTENTWICKLUNG. DAS EIGENE 
WESEN ZUM AUSDRUCK ZU BRINGEN — DAZU SIND 
WIR AUF DIESER ERDE. HEUTZUTAGE FÜRCHTET 
MAN SICH VOR SICH SELBST. MAN HAT DIE HÖCHSTE 
PFLICHT VERGESSEN: DIE PFLICHT GEGEN SICH 
SELBST. OSCAR WILDE. 
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