sondern ihr Schweiß und Blut, ihre Gesundheit und Kraft
verschwendet wurde, es wird ein schreckliches Erkennen
sein, ein Bewußtwerden der drückenden Armut und Leere,
die im Hintergründe dieser gleißenden Kultur lauert. Wenn
in einem Augenblicke die Schuppen von allen Augen fallen
würden, wäre der Sturz aller Werte, die Scheinwerte sind,
unvermeidlich und gut neun Zehntel von allem, um dessen«-
willen heute gefeilscht, betrogen, geknechtet und geschuftet
wird, müßte alsdann auf einen riesigen Schutthaufen zu^
sammengeworfen werden. Aller Reichtum dieser Art wäre
im Handumdrehen zur Bettelarmut, die mit hinderlichem
Ballast beschwert ist, und das Unvermögen, die im langen
Mißbrauch erzogene Untüchtigkeit der eingerosteten Fähige
keiten müßte als furchtbarstes Verhängnis empfunden werden.
Es wäre wie das Erwachen eines Nachtwandlers, der unfehh
bar in die Tiefe stürzt. Und doch ist der Sturz unvermeidlich
und heilsam, wenn er sich auch nicht plötzlich vollzieht,
sondern im Wege organischer Umwandlung. Ein Erwachen
ist es immerhin. Unsere ganze Zukunft ist auf unser Auge
gestellt. Die Entwicklung unserer Kultur und unserer Volks^
Wirtschaft hängt von der Bildung unseres Auges ab. Das
Auge ist der Wächter und Hüter des Paradieses, das sich
in eine Wüste umverwandelt, wenn das Auge schläft. Sobald
das Auge wieder befähigt ist, das Gute vom Schlechten zu
unterscheiden, die Häßlichkeit des Schmutzes, der Armut
und Verwahrlosung wahrzunehmen, den Unwert, sobald es
nicht mehr die falschen, geschmacklosen und ungehörigen
Erzeugnisse ertragen wird, sobald ihm der Schmutz und die
Verwahrlosung des äußeren Lebens ein beleidigender Anblick
wird, dann wird es auch das Elend und die Armut vieler
Menschen in den Orten dieser ungehörigen Erzeugung nicht
mehr ansehen können und die wahre Volkswirtschaft wird
dann im Aufblühen und in der Entwicklung begriffen sein.
Nicht die heutige Form von Industrie und Handel fördert
die Entwicklung der wahren Volkswirtschaft, die immer nur
als eine Entwicklung der schöpferischen und edelsten Kräfte
des Volkes zur wahren Nützlichkeit, zur Freude und Schöne
heit und zur Gesittung verstanden sein soll; Industrie und
Handel in der heutigen Form haben gar kein Interesse an
einer solchen Volkswirtschaft. Zwar könnte einzig und allein
das Wohlbefinden von Industrie und Handel, wie später zu
zeigen sein wird, nur von einer solchen Volkswirtschaft
abhängen; in der heutigen Form aber wird das Wohlbefinden
von Industrie und Handel lediglich als eine Sache der Plus-
macherei, der Erzeugung des an sich unfruchtbaren Geldes,
auf Kosten der einzig fruchtbaren menschlichen Arbeitskraft
und auf Kosten des unerfahrenen und getäuschten Käufers
betrachtet.
Es ist, als ob ein schwerer Traum die Menschheit ängstigen
würde. Alle kennen die schrecklichen Gesichte, die ich in
diesem Buche beschworen habe, und alle verhüllen ihr
Haupt, um sie nicht zu sehen, und obgleich sie deren
Wahrheit nicht leugnen können, schreien sie entsetzt, es ist
nicht wahr, es kann nicht sein!
Dieselben Menschen, die mit ihrer Industrie und ihrem
Handel die Welt erlösen und beglücken möchten, frohlocken,
einen Beweis zu erbringen und der Beweis schlägt ins
Gegenteil um. Der Segen verwandelt sich in einen Fluch,
und obschon die dreifach geschlungene Kette von Armut,
Verkommenheit und Roheit tief ins Fleisch drückt, sind
Industrie und Handel bemüht, die Kette immer fester am
zuziehen, angeblich um die Volkswirtschaft zu entwickeln.
Noch vermag man es nicht einzusehen, daß diese Art von
Volkswirtschaft auf Trug und Bedrückung hinausläuft.
Damit es aber nicht scheinen möge, als wäre ich ein bos^
hafter Lügner, der die Sache des Handels und der Industrie
grundlos verdächtigen möchte (obschon die Schäden vor
aller Augen liegen), so will ich ein paar praktische Beispiele
anführen, die beweisen, daß Industrie und Handel, so wie sie
heute beschaffen sind, sich nicht auf ein gutes Wollen be
rufen können, sondern mit vollem Bewußtsein korrumpierende
Mächte sind. In der „Deutschen Volkswirtschaft im XIX.
Jahrhundert“ von Werner Sombart, die ich schon an früherer
Stelle erwähnt habe, wird die „Anpassungsfähigkeit“ des
deutschen Volkes als Ursache des wirtschaftlichen Auf
schwunges gerühmt und folgendermaßen illustriert: „In
Brasilien kauft man nicht gerne Waren, an denen etwas
Schwarzes ist. Die Engländer exportieren in dieses Land
vorzügliche Nähnadeln, aber sie waren verpackt in schwarzes
Papier. Sächsische Fabrikanten erhalten von der Marotte
der Brasilianer Kunde, schicken viel schlechtere Nähnadeln
hinüber, aber verpacken sie in rosa Papier und erobern auf
diese Weise den Markt.“ Dem Professor Werner Sombart
erscheint dieser und viele ähnliche Fälle lehrreich durch
ihre symptomatische Bedeutung. Auch mir erscheinen sie
so, allerdings in einem ganz anderen Sinne. Jene sklavische
Anpassungsfähigkeit, die betrügerische Unterwürfigkeit er
scheint mir nur als eine sehr traurige Rühmlichkeit, die der
deutschen Natur wenig gut ansteht und das Zeichen eines
moralischen Verfalls ist, der durch das heutige Wirtschafts
prinzip verursacht worden. Ich habe es schon an anderer
Stelle ausgeführt, daß dieses Prinzip auf einem doppelten
Betrug beruht, der einerseits an dem bedrückten Verfertiger
und Hand- oder Maschinenarbeiter und anderseits an dem
unwissenden und ob seiner Unkenntnis getäuschten Abnehmer
ausgeübt wird.
Ich frage nun, was geschehen wird, wenn der brasilianische
Käufer aus seiner Unkenntnis erwacht und zur intensiveren
Bildung vorschreitet? Wenn er inne wird, daß die schwarze
Papierpackung für feine Stahlware der Konservierung wegen
unerläßlich ist, und daß obendrein die rosa Papierpackung
ein viel schlechteres Fabrikat enthält?
Er wird für diese entgegenkommende Anpassungsfähigkeit,
die nur schwer vom unlauteren Wettbewerb zu unterscheiden
ist, wenig Dank wissen und das deutsche Fabrikat wird
auch auf dem brasilianischen Markt mit dem im Ausland
für alle Schundware gebrauchten verächtlichen Ausdruck
„Made in Germany“ abgetan sein. Durch unzählige andere
Beispiele läßt sich dartun, daß ein wirklicher und dauernder
Erfolg niemals durch den Grundsatz von Billig und Schlecht,
niemals durch Unlauterkeit und Verschlechterung, sondern
immer nur errungen werden kann durch eine Steigerung
der Qualität, durch den Einsatz der höchsten und besten
Eigenschaften, die aber nur möglich sind durch eine Steigerung
aller menschlichen Werte.
Ich lasse es an diesen Beispielen genügen, denn alle anderen
Fälle, die wir aus den amtlichen Berichten und aus den
praktischen Erfahrungen anführen können, enthalten die
Nutzanwendung derselben Wahrheit, die in den Berichten
und in der Praxis triumphiert, nämlich daß das unschätzbare
volkswirtschaftliche Elememt, DAS TALENT, aus Handel
und Industrie ausgeschaltet ist, und daß William Morris’
Worte recht behalten. „Es wird viel auf den Schein berechnete
Arbeit in der Welt hervorgebracht, die dem Käufer Schaden
bringt, noch mehr dem Verkäufer, und wenn er es nur
wüßte, am meisten dem Hersteller: ein wie guter Grund zur
Erlangung einer guten dekorativen Kunst, das heißt orna
mentalen Arbeit, würde gelegt werden, wenn die Hand
werker sich entschlössen, nur ausgezeichnete Arbeit zu liefern,
statt, wie jetzt nur zu oft geschieht, die Mittelmäßigkeit zur
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