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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 2. Jahrgang 1905/06

sondern ihr Schweiß und Blut, ihre Gesundheit und Kraft 
verschwendet wurde, es wird ein schreckliches Erkennen 
sein, ein Bewußtwerden der drückenden Armut und Leere, 
die im Hintergründe dieser gleißenden Kultur lauert. Wenn 
in einem Augenblicke die Schuppen von allen Augen fallen 
würden, wäre der Sturz aller Werte, die Scheinwerte sind, 
unvermeidlich und gut neun Zehntel von allem, um dessen«- 
willen heute gefeilscht, betrogen, geknechtet und geschuftet 
wird, müßte alsdann auf einen riesigen Schutthaufen zu^ 
sammengeworfen werden. Aller Reichtum dieser Art wäre 
im Handumdrehen zur Bettelarmut, die mit hinderlichem 
Ballast beschwert ist, und das Unvermögen, die im langen 
Mißbrauch erzogene Untüchtigkeit der eingerosteten Fähige 
keiten müßte als furchtbarstes Verhängnis empfunden werden. 
Es wäre wie das Erwachen eines Nachtwandlers, der unfehh 
bar in die Tiefe stürzt. Und doch ist der Sturz unvermeidlich 
und heilsam, wenn er sich auch nicht plötzlich vollzieht, 
sondern im Wege organischer Umwandlung. Ein Erwachen 
ist es immerhin. Unsere ganze Zukunft ist auf unser Auge 
gestellt. Die Entwicklung unserer Kultur und unserer Volks^ 
Wirtschaft hängt von der Bildung unseres Auges ab. Das 
Auge ist der Wächter und Hüter des Paradieses, das sich 
in eine Wüste umverwandelt, wenn das Auge schläft. Sobald 
das Auge wieder befähigt ist, das Gute vom Schlechten zu 
unterscheiden, die Häßlichkeit des Schmutzes, der Armut 
und Verwahrlosung wahrzunehmen, den Unwert, sobald es 
nicht mehr die falschen, geschmacklosen und ungehörigen 
Erzeugnisse ertragen wird, sobald ihm der Schmutz und die 
Verwahrlosung des äußeren Lebens ein beleidigender Anblick 
wird, dann wird es auch das Elend und die Armut vieler 
Menschen in den Orten dieser ungehörigen Erzeugung nicht 
mehr ansehen können und die wahre Volkswirtschaft wird 
dann im Aufblühen und in der Entwicklung begriffen sein. 
Nicht die heutige Form von Industrie und Handel fördert 
die Entwicklung der wahren Volkswirtschaft, die immer nur 
als eine Entwicklung der schöpferischen und edelsten Kräfte 
des Volkes zur wahren Nützlichkeit, zur Freude und Schöne 
heit und zur Gesittung verstanden sein soll; Industrie und 
Handel in der heutigen Form haben gar kein Interesse an 
einer solchen Volkswirtschaft. Zwar könnte einzig und allein 
das Wohlbefinden von Industrie und Handel, wie später zu 
zeigen sein wird, nur von einer solchen Volkswirtschaft 
abhängen; in der heutigen Form aber wird das Wohlbefinden 
von Industrie und Handel lediglich als eine Sache der Plus- 
macherei, der Erzeugung des an sich unfruchtbaren Geldes, 
auf Kosten der einzig fruchtbaren menschlichen Arbeitskraft 
und auf Kosten des unerfahrenen und getäuschten Käufers 
betrachtet. 
Es ist, als ob ein schwerer Traum die Menschheit ängstigen 
würde. Alle kennen die schrecklichen Gesichte, die ich in 
diesem Buche beschworen habe, und alle verhüllen ihr 
Haupt, um sie nicht zu sehen, und obgleich sie deren 
Wahrheit nicht leugnen können, schreien sie entsetzt, es ist 
nicht wahr, es kann nicht sein! 
Dieselben Menschen, die mit ihrer Industrie und ihrem 
Handel die Welt erlösen und beglücken möchten, frohlocken, 
einen Beweis zu erbringen und der Beweis schlägt ins 
Gegenteil um. Der Segen verwandelt sich in einen Fluch, 
und obschon die dreifach geschlungene Kette von Armut, 
Verkommenheit und Roheit tief ins Fleisch drückt, sind 
Industrie und Handel bemüht, die Kette immer fester am 
zuziehen, angeblich um die Volkswirtschaft zu entwickeln. 
Noch vermag man es nicht einzusehen, daß diese Art von 
Volkswirtschaft auf Trug und Bedrückung hinausläuft. 
Damit es aber nicht scheinen möge, als wäre ich ein bos^ 
hafter Lügner, der die Sache des Handels und der Industrie 
grundlos verdächtigen möchte (obschon die Schäden vor 
aller Augen liegen), so will ich ein paar praktische Beispiele 
anführen, die beweisen, daß Industrie und Handel, so wie sie 
heute beschaffen sind, sich nicht auf ein gutes Wollen be 
rufen können, sondern mit vollem Bewußtsein korrumpierende 
Mächte sind. In der „Deutschen Volkswirtschaft im XIX. 
Jahrhundert“ von Werner Sombart, die ich schon an früherer 
Stelle erwähnt habe, wird die „Anpassungsfähigkeit“ des 
deutschen Volkes als Ursache des wirtschaftlichen Auf 
schwunges gerühmt und folgendermaßen illustriert: „In 
Brasilien kauft man nicht gerne Waren, an denen etwas 
Schwarzes ist. Die Engländer exportieren in dieses Land 
vorzügliche Nähnadeln, aber sie waren verpackt in schwarzes 
Papier. Sächsische Fabrikanten erhalten von der Marotte 
der Brasilianer Kunde, schicken viel schlechtere Nähnadeln 
hinüber, aber verpacken sie in rosa Papier und erobern auf 
diese Weise den Markt.“ Dem Professor Werner Sombart 
erscheint dieser und viele ähnliche Fälle lehrreich durch 
ihre symptomatische Bedeutung. Auch mir erscheinen sie 
so, allerdings in einem ganz anderen Sinne. Jene sklavische 
Anpassungsfähigkeit, die betrügerische Unterwürfigkeit er 
scheint mir nur als eine sehr traurige Rühmlichkeit, die der 
deutschen Natur wenig gut ansteht und das Zeichen eines 
moralischen Verfalls ist, der durch das heutige Wirtschafts 
prinzip verursacht worden. Ich habe es schon an anderer 
Stelle ausgeführt, daß dieses Prinzip auf einem doppelten 
Betrug beruht, der einerseits an dem bedrückten Verfertiger 
und Hand- oder Maschinenarbeiter und anderseits an dem 
unwissenden und ob seiner Unkenntnis getäuschten Abnehmer 
ausgeübt wird. 
Ich frage nun, was geschehen wird, wenn der brasilianische 
Käufer aus seiner Unkenntnis erwacht und zur intensiveren 
Bildung vorschreitet? Wenn er inne wird, daß die schwarze 
Papierpackung für feine Stahlware der Konservierung wegen 
unerläßlich ist, und daß obendrein die rosa Papierpackung 
ein viel schlechteres Fabrikat enthält? 
Er wird für diese entgegenkommende Anpassungsfähigkeit, 
die nur schwer vom unlauteren Wettbewerb zu unterscheiden 
ist, wenig Dank wissen und das deutsche Fabrikat wird 
auch auf dem brasilianischen Markt mit dem im Ausland 
für alle Schundware gebrauchten verächtlichen Ausdruck 
„Made in Germany“ abgetan sein. Durch unzählige andere 
Beispiele läßt sich dartun, daß ein wirklicher und dauernder 
Erfolg niemals durch den Grundsatz von Billig und Schlecht, 
niemals durch Unlauterkeit und Verschlechterung, sondern 
immer nur errungen werden kann durch eine Steigerung 
der Qualität, durch den Einsatz der höchsten und besten 
Eigenschaften, die aber nur möglich sind durch eine Steigerung 
aller menschlichen Werte. 
Ich lasse es an diesen Beispielen genügen, denn alle anderen 
Fälle, die wir aus den amtlichen Berichten und aus den 
praktischen Erfahrungen anführen können, enthalten die 
Nutzanwendung derselben Wahrheit, die in den Berichten 
und in der Praxis triumphiert, nämlich daß das unschätzbare 
volkswirtschaftliche Elememt, DAS TALENT, aus Handel 
und Industrie ausgeschaltet ist, und daß William Morris’ 
Worte recht behalten. „Es wird viel auf den Schein berechnete 
Arbeit in der Welt hervorgebracht, die dem Käufer Schaden 
bringt, noch mehr dem Verkäufer, und wenn er es nur 
wüßte, am meisten dem Hersteller: ein wie guter Grund zur 
Erlangung einer guten dekorativen Kunst, das heißt orna 
mentalen Arbeit, würde gelegt werden, wenn die Hand 
werker sich entschlössen, nur ausgezeichnete Arbeit zu liefern, 
statt, wie jetzt nur zu oft geschieht, die Mittelmäßigkeit zur 
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