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noch nicht eingesehen, daß das Landhaus ein freies ungebundenes Wesen ist, das man
anlegen und gestalten kann, wie man will, daß hier den Einzelwünschen des Bewohners
in der weitgehendsten Weise Rechnung getragen werden kann, daß jedes Zimmer
individuell gestaltet, die Küche groß, die Neben- und Vorratsräume reich bemessen
werden können. Aber nicht nur das, der Villenbewohner selbst hat sich noch nicht
die Untugenden abgewöhnt, die der Aufenthalt in der großstädtischen Etage in ihm
gezüchtet hat. Er will, obgleich er jetzt aufs Land gezogen ist, auf die Prunkräume
nicht verzichten. Er verlangt im kleinen Eigenhause dieselben fünf Meter hohen Zimmer
und den Riesenspeisesaal, die er in der Etage hatte. Die Freuden des Landlebens und
der verinnerlichende Einfluß der ländlichen Umwelt haben noch nicht nachhaltig genug
gewirkt, um ihm die Prahlerei der Großstadt abzugewöhnen, die bei vielen über ihre
Mittel geht, wenn sie sie im eigenen Hause durchführen wollen.
Aber in alledem liegt noch nicht die schlimmste Beeinflussung des Landhauses
von der großstädtischen Etage her. Diese spricht sich vielmehr darin aus, daß
über die sachgemäße Grundrißanlage des Landhauses in Deutschland noch die aller
ungeklärtesten Ansichten herrschen. Den Durchschnittsarchitekten, der auf seinem
Reißbrett ein Landhaus entstehen läßt, leiten dabei die allerverschiedensten Gesichts
punkte, nur nicht die sachlichen. Er denkt zunächst ans Äußere, das Haus soll von
der Straße hübsch aussehen. In der Grundrißgestaltung wird hoher Wert auf den
Zusammenhang der Hauptwohnräume für Gesellschaftszwecke gelegt. Wieviel Personen
im Speisezimmer gesetzt werden können, wohin sich die Gesellschaft nach Verlassen
des Tisches begibt, wie sie dort zirkuliert, das sind die Hauptgesichtspunkte beim
Entwurf. Die erste Frage, die der Architekt in Deutschland dem Bauherrn vorzulegen
hat, ist die, wieviele Personen er zu setzen wünscht, eine Frage, bei der man doch
meinen sollte, daß es sich vielmehr um ein Wirtshaus als um ein Wohnhaus handelte.
Sodann muß das Landhaus vor allem eine pompöse Halle haben, die möglichst durch
zwei Stockwerke geht. Viele Bauherren wünschen für diese sogar Oberlicht (einen
Notbehelf im eingeklemmten Stadthause!). Im Keller wird eine „gemütliche Kneip
stube“ verlangt. Damit ist der Wunsch des Bauherrn für sein Haus und das Streben
des Architekten in den meisten Fällen erledigt. Die Küche und die Wirtschaftsräume
ergeben sich im Keller von selbst, die Schlafzimmer werden im ersten Stockwerk
untergebracht, wie es gerade kommt. Die Stellung des Hauses auf dem Grundstück ist
von vornherein dadurch gegeben, daß das Haus an der Straße liegt, so weit von dieser ab
gerückt, als die amtlich vorgeschriebene Vorgartenbreite beträgt, und selbstverständlich
werden die Wohnräunu an die Straßenfront gelegt. Liegt diese Straßenfront nach
Norden, so wohnt man eben nach Norden, liegt sie westlich, so wohnt man westlich. An
die Himmelsrichtung wird bei der ganzen Anlage des Hauses überhaupt nicht gedacht.
In der Übertragung der Eigenheiten des Stadthauses auf das Landhaus ist im
übrigen nur jener bei allen menschlichen Gestaltungen zu beobachtende Vorgang zu
erblicken, daß neue Bedingungen nicht sofort die richtige neue Ausdrucksform finden.
Man denke nur an die ersten Eisenbahnwagen, die aussahen wie eine Postkutsche, an
die ersten Gasflammen, die sich in die Form der Wachskerzen verbargen, und an die
ersten Automobile, die die Form einer Droschke ohne Deichsel hatten. Auch das moderne
Landhaus ist gegenüber dem bisherigen Typus des Stadthauses ein Gebilde, für das
neue Bedingungen maßgebend sind, für das aber die diesen Bedingungen entsprecnende
neue Form noch nicht gefunden ist. Diese neue Form zu entwickeln wird die Aufgabe
der Gegenwart sein.
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