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Volltext: Die Wiener Spitzenausstellung - 1. Teil

ÜBERBLICK ÜBER DIE ENTWICKLUNGS 
GESCHICHTE DER SPITZE.' 
D IE im Frühjahre 1906 unter dem Allerhöchsten Protektorate Ihrer k. und k. Hoheit der durchlauchtigsten 
Frau Erzherzogin Maria Josepha im k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie zu Wien 
veranstaltete „Spitzen- und Porträtausstellung“ hat aus dem reichen kirchlichen und privaten Besitze Österreichs 
eine solche Fülle künstlerisch und geschichtlich wertvoller Stücke vereinigt, wie man sie wohl nur selten zu 
sehen Gelegenheit hat; es wurde daher sofort von vielen Seiten der Wunsch geäußert, wenigstens einen Teil der 
Spitzenausstellung in einer Auswahl von Abbildungen zum dauernden Genüsse und Studium vereinigt zu halten. 2 
Es war Gelegenheit geboten, die Spitze von ihren ersten Anfängen bis zu ihrer reichsten Entwicklung, 
dann in ihrem Absterben und in ihrer neuerlichen Belebung zu verfolgen. Gewiß ist es für den rein ästhe 
tischen Genuß einer Sache ziemlich gleichgültig, ob man weiß, wann und wo sie entstanden ist; aber trotzdem 
erschien es bei der Ausstellung sowohl als in dieser Veröffentlichung vorteilhaft, die Arbeiten, so weit es anging, 
zeitlich und örtlich zu gruppieren, weil man dann am wenigsten zu befürchten hatte, daß Gegenstände aneinander 
gerieten, die einander in der künstlerischen Wirkung etwa störten. Und dann ist es gewiß auch in anderer 
Hinsicht sehr anregend zu sehen, wie eine bestimmte Kunstform und Technik im Laufe der Zeiten und ent 
sprechend ihrem Wandel sich umzugestalten vermag; es wird Genuß bereiten, die tieferen Gesetze mensch 
licher Entwicklung auch in scheinbar geringfügigen Dingen ebenso wirksam zu erkennen wie in den augen 
fälligsten. Man wird auch bemerken, daß jede Zeit in ihrer Art Vollendetes geschaffen hat und daß dies Schöne 
vielfach auch noch für uns lebendig geblieben ist. Vielleicht wird man aber auch empfinden, daß, da alles Alte 
sich stets gewandelt hat und da selbst vom alten Guten nicht alles mehr unserem Gefühle entspricht, auch die 
Gegenwart das Recht und die Pflicht hat, neben das treffliche Alte, auf das wir nicht verzichten wollen, neues 
Schöne zu setzen. 
Deshalb wird es vielleicht nicht wertlos sein, wenn auch hier der Versuch gemacht wird, einen kurzen 
Überblick über die künstlerische Entwicklung der Spitze zu bieten. Es darf dies wohl um so eher geschehen, 
als die umfassenderen Arbeiten über die Spitze entweder bereits mehrere Jahre zurückliegen und daher natur 
gemäß in manchen Punkten überholt sind, oder von vorneherein strengerem Urteil nicht standzuhalten ver 
mögen. 3 Wenn wir uns über die Spitze klar werden wollen, so müssen wir uns vor allem hüten, uns durch 
Namen beirren zu lassen und überhaupt zu viel Wert auf sie zu legen. Dieser Fehler ist allerdings oft begangen 
worden; besonders die englischen Behandlungen unseres Gegenstandes, unter denen das Werk der Frau Palliser 
immer noch eine hervorragende Stellung einnimmt, sind vielfach in diesen Fehler verfallen; es wird darüber 
häufig der Zusammenhang der Entwicklung ganz übersehen. Man darf nicht vergessen, daß Ausdrücke wie 
de France , „Point d Angleterre“ zu verschiedenen Zeiten ganz Verschiedenes bedeuten können; von 
letzterem Ausdrucke insbesondere, über den übrigens auch hier noch zu sprechen sein wird, habe ich bereits an 
anderer Stelle 4 nachgewiesen, daß er vielfach in Brüssel hergestellte Arbeiten bezeichnet. Mancher Ausdruck, 
den man als Spitze deutete, hat mit Spitzen in unserem Sinne aber überhaupt nichts zu tun; der „Point de Saxe“ 
zum Beispiele, der so oft als Spitze gerühmt wird, ist, wie ich gleichfalls bereits an anderem Orte - erwähnt habe, 
wahrscheinlich eine außerordentlich feine Batist- oder Musselinstickerei, in der Sachsen im XVIII. Jahrhunderte 
besonders glänzte. Andere Beispiele, die zur Vorsicht mahnen sollen, werden sich im Späteren noch zur Genüge 
finden. 
' Diese Einleitung ist ein, dem neuen Zwecke entsprechend, etwas veränderter Abdruck des Aufsatzes „Die Spitzenausstellung im Österreichischen 
Museum“ in der Zeitschrift des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie „Kunst und Kunsthandwerk“, 1906, Seite 366 ff. 
- Die Zahl der Spitzenaussteller, die bis auf zwei durchwegs in Österreich-Ungarn ansässig sind, betrug 152. Die Besitzer sind bei den einzelnen Stücken 
bezeichnet. 
3 Von einem der verbreitetsten Werke sei hier die Neuausgabe angeführt: „History of Lace by Mrs. Bury Palliser, edited by M.Jourdain and Alice Dryden “ 
London igo2. 
Förderliche Arbeiten sind unter anderen die von Jos. Seguin („La Dentelle“, Paris 1875), von L. Duval („Documents pour servir ä l’histoire de la fabrication du 
Point d’Alencon“, Alencon 1883) und Mme. G. Despierres („Histoire du Point d’Alencon“, Paris 1886), von Pierre Verhaegen („La dentelle et la broderie sur tulle 
[en Belgique“] Brussel 1902), von Tina Frauberger („Handbuch der Spitzenkunde“) und verschiedene Abschnitte in Max Heidens „Handwörterbuch der Textil 
kunde“ (Stuttgart 1904), in dem auch die weitere Literatur angeführt ist. Zu den letzten Erscheinungen gehört: Mme. Laurence de Laprade „Le poinct de France et 
les centres dentelliers au XVIIe et au XVIIIe siede“ (Paris 1905), ein anscheinend nützliches Werk, dessen Einzelheiten der Verfasser dieses Aufsatzes bisher 
aber nur teilweise nachgehen konnte. Die reiche Spitzensammlung des k. k. Österreichischen Museums wurde in dem Werke des Verfassers „Entwicklungsgeschichte 
der Spitze“ (Wien 1901) zum Ausgangspunkte geschichtlicher und technischer Untersuchungen gemacht. 
Zu erwähnen wäre etwa noch: Mrs. F. Neville Jakson „A History of Hand-made Lace“, London 1900. — Das neu erschienene „Lace-book“ von N. Hudson- 
Moore (London 1905) scheint einen Amerikaner zum Verfasser zu haben, in dessen Vorstellung sich - wie etwa der Europäer die großen Entfernungen zwischen 
Städten Amerikas nicht immer richtig vor Augen hat - wieder die Jahrhunderte der europäischen Entwicklung zu einer etwas unklaren Einheit zu verschmelzen 
scheinen. 
4 „Kunst und Kunsthandwerk,“ 1905, Seite 642. Man vergleiche auch den Abschnitt über die Rokokospitze (Seite 22). 
5 „Künstlerische Entwicklung der Weberei und Stickerei“, Wien 1904, Seite 304.
	        
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