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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift für Architektur, angewandte Kunst und alle modernen Kulturaufgaben, 4. Jahrgang 1908

DHS PROBLEM DER MODERNEN PLHSTIK 
VON HERMHNN OBRIST IN MÜNCHEN 
EIN VORTRHG Fortsetzung 
ir wollen nicht unerwähnt laffen, daß überall, auf allen Hus- 
ftellungen, in allen Br onzewarengefchäften, bei allen Kunft» 
handlungen zahlreiche kleine plaftifche Hrbeiten jet)t zu 
fehen find, welche fcheinbar dem entfpredben, was wir fordern: 
naturaliftifche Figürchen, charakteriftifche Tierftücke (wie z. B. von 
Gaul), ebenfalls charakterifierende Porträtplaketten und ungezähl 
tes mehr. Wie weit find wir jedoch noch davon entfernt, daß alle 
diele interefianten kleineren Studien ihren Weg gefunden hätten in 
die große Plaftik, die allein eine wirklich große bürgerliche Kultur 
der Gegenwart und Zukunft uns fichtbar und offenbar machen 
könnte? Noch ift alle gewaltige Plaftik an Monumentalbauten, 
an Denkmälern, an Brücken und Brunnen ganz in den Feffeln 
der Konvention jener pfeudo-idealen Schönheit oder wenn nicht 
diefer, fo doch der hiftorifchen Motive befangen, die wir vorhin 
zu beleuchten verfuchten. Noch herrfcht fchöne Pofe, die Gefte 
und die Draperie allgemein in deutfchen Landen. Ob nun Handel 
und Induftrie, ob der Main und Neckar, ob die Weisheit und die 
Wiffenfchaft, ob Krieg und Frieden dargeftellt werden foll, alles 
ift fo traditionell, fo international-konventionell, alles fo undeutfcb 
wie nur möglich dargeftellt. Weder Mann noch Weib, weder 
Tiere noch Pflanzen, nicht einmal die Kinderdarftellungen kommen 
aus den Typen der antiken Götter und Helden, des Löwen und 
des Lorbeers, der Putten, der Girlanden und der Delphine oder 
aber all der Heiligengeftalten heraus, die uns durch alle Jahr 
hunderte, durch Hntike und Barock bis auf untere Tage verfolgen. 
In neuer Zeit lieht man wieder mehr romanifch oder byzantinifch 
ftilifierte Bronzen, wie in München, oder aber eckige, kantige, 
geometrifcb-byperftilifierte Gebilde; die Grundtypen an fich bleiben 
jedoch immer die etwas theatralifchen traditionellen Geflehter und 
Polen. Und dabei haben wir rings um uns herum alle erdenk 
lichen Typen, die wir nur aufzugreifen und charakterifierend zu 
verwenden brauchen, um eine neudeutfehe Hrchitekturplaftik 
fondergleichen zu erhalten, wobei wir unter charakterifierend 
etwas verftehen, das von der Karikatur ebenfoweit entfernt ift, 
wie vom bloß Naturaliftifchen. Gedrungene, trotzige Geftalten 
unter Rekruten und Hrbeitern, fehnige Fifcher, hagere, raffige 
Bauern, feifte lebensfreudige Leute, ariftokratifch fchlanke, ver 
feinerte Damen, fröhliche, rundliche Mädchen, entzückende be 
wegliche Kinder, wir haben Doggen und mächtige Gäule, Hirfch 
und Fuchs und unzählige äußerft charakteriftifche, allen in ihren 
fymbolifchen oder dekorativen Werten wohl bekannte Pflanzen, 
wir haben alles, um die berrlichften neuen Bauornamente zu 
erfinden, um Krieg und Hrbeit, um die Schiffahrt, die Landwirt- 
fchaft, die Lebensfreude, die Vornehmheit, die bürgerlichen 
Tugenden, die Liebe, die Kraft, den Trot), die Gewandtheit, die 
Verfchlagenheit, die Freude am Waffer charakteriftifch zu fymboli- 
fieren, an allen unteren öffentlichen ftaatlichen Gebäuden, an 
Palaft und Rathaus, Brücke, Denkmal und Schule charakteriftifch 
zu allegorifieren - und ftatt deffen - wiffen Sie, verehrte Hn- 
wefende, was mär ein Münchner Bildhauer felber einmal fagte, 
wie ich ihm das auseinanderzufetjen verfuchte? Er fagte: o mei, 
wie würde fo was an unterem neuen Mufeum ausfehauen, oder 
an unteren neuen noblen Brücken? Das paßt ja gar nicht hin, 
das würde die ja verfchandeln. □ 
Und eben das, verehrte Hnwefende, ift der fpringende Punkt. 
Das paßt alles nicht bin an untere »noblen« Gebäude! Gewiß 
nicht. Ja, wir geben noch weiter. Es ift fogar ficher, daß wir 
Neueren nicht imftande wären, auf einem der jetjt in hiftorifchen 
Stilen errichteten Gebäude plaftifche Werke in neuem Geifte zu 
zaubern, die annäbrend fo überzeugend febön wirken würden, 
wie das, was einzelne hervorragende Nacbempfinder, wie z. B. 
die Münchner Stilbildbauer beute in München febaffen, diefer 
Hochburg des Verftändniffes für die »fchönen alten Zeiten«. 
Immer wieder wird hier eine neue »gute alte Tradition« aus 
gegraben, eine neue noch nicht genügend gefebä^te Heimatkunft 
zu neuem, fchönem Treibbausleben auf kurze Zeit erweckt. Und 
nirgends wohl wird fpäter wie in diefer Zentrumsftadt eine 
moderne Hrcbitekturplaftik zu fehen fein. Und da die Großplaftik 
nun einmal mit der Hrchitektur eng verbunden ift, fo febeint es 
faft, als könne es eine neue, große, charakterifierende deutfebe 
und nordäfebe Plaftik nicht geben, bis die ganze Hrchitektur den 
Frontwechfel zuerft mitgemacht hat und fich befreit bat von den 
Banden des Hiftorismus, ganz gleich, ob das ein Renaiffance- 
oder ein Heimatkunft-Hiftorismus ift; denn auch bei letzterem 
kommen wir nicht über das Stilifieren in romanifeber oder mittel 
alterlich-heimatlicher Hrt, alfo über das Stilifieren in mittelbarer 
Hrt, hinaus. Und auch wenn ein Bildhauer bei uns in feltenen 
Fällen einmal Stier und Hirfch beherrfcht, fo fel}t er mit tödlicher 
Sicherheit eine »Europa« oder eine »Diana« darauf. Die Hrchi 
tektur muß genau fo eine die gegenwärtigen und zukünftigen 
Zwecke einer Klinik, eines Scbulbaufes, eines neuen Rathaufes 
unmittelbar charakterifierende Kunft werden, wie wir es in 
anderer Weife bei der Landfcbaftsmalerei verlangen, ftatt eine 
folche zu fein, die z. B. eine neue, moderne Univerfität wie ein 
febönes, altes, »heimatliches« Klofter geftaltet. Erft dann werden 
wir eine neue, wirklich moderne deutfebe Hrcbitekturplaftik haben, 
früher nicht. O 
Davon find wir jedoch, verehrte Hnwefende, mit wenigen treff 
lichen Husnabmen noch unendlich weit entfernt, wie Säe alle 
wohl wiffen werden. Wird doch die Hrchitektur die letjte aller 
bildenden Künfte fein, die refolut fich auf den Standpunkt des 
Vorwärtsblickens ftellen wird. Da nun außerdem zahlreiche 
Architekten durchaus überzeugt find, daß ein Bildhauer als felbft- 
tätiger Künftler an einem Baue nichts zu fuchen bat, fondern 
ausfcbließlicb als ausfübrender Plaftiker das zu modellieren bat, 
was der Architekt an Hrcbitekturplaftik vorher zeichnete (daher 
der Name Plaftik!), fo wäre damit wobt bewiefen, daß die Groß 
plaftik als felbftändige Kunft vorerft weder Husficbten, noch über 
haupt Exiftenzberechtigung mehr hätte, und wir könnten unteren 
Vortrag getroft fcbließen. □ 
Dem ift nun, verehrte Hnwefende, Gott fei Dank, nicht ganz fo. 
Noch exiftieren Gebiete, in welchen der Plaftiker, der Formen- 
künftler (wie ich ihn nenne) fich ohne die Leitung des Architekten 
durchaus felbftändig fcböpferifcb ausleben kann, beziebungsweife 
ausleben follte. Und noch mehr, verehrte Hnwefende! Wir leben 
der Überzeugung, daß von diefen befcheidenen Gebieten aus, 
die wir jetjt beleuchten wollen, eben die Wiedergeburt der Groß 
plaftik ausgehen kann, die wir erfebnen. In welchem Sinne dies 
zu verftehen ift, dies wollen wir verfuchen klarzulegen. a 
(Wenn wir, wie ich ausdrücklich betone, hier das Gebiet der 
freien, hoben Kunft vorderhand beifeite laffen, fo gefebiebt das 
mit der Hbficbt, fpäter erft recht auf fie zurückzukommen.) 
Welches find nun die Gebiete, die wir meinen? Es find diefes 
die Gebiete der angewandten Kunft, der Keramik, der Metaltguß- 
plaftik und verwandter Gattungen und ferner das Gebiet der 
Grabmalkunft, der Brunnen und des Gartens. □ 
Warum hier nicht ein blühendes, neues, plaftifcbes Leben, eine 
neue, reiche Formenkunft genau wie etwa im Bucbfcbmuck oder 
in der Innenarchitektur einziehen follte, wäre unerfindlich, wenn 
man nicht aus Erfahrung wüßte, daß gerade aus den Kreifen 
des jetjigen Typs des Bildhauers am wenigften etwas derartiges 
zu erwarten fleht. Wir kennen keine Menfcbengattung, mit der 
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