Nr. 23
Internationale Sam m l e r -Z c i t u n-g.
Seite 365
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Fis. 22. Mde. de Maintcnon.
Chronik.
Bibliophilie.
(Gefährdete Literaturschätze in Ko n-
stantinopel.) Eine der kostbarsten und interessantesten
Bücher- und Handschriftensammlungcn der Welt ist die Bibliothek
des alten Serails in Konstantinopel; nur wenigen europäi
schen Forschern ist es bisher vergönnt gewesen, inmitten dieser
Schätze ihren Studien obliegen zu können. Der Reichtum dieser
Büchersamnilung ist noch nicht fruchtbar gemacht worden und
die Kulturwelt hat ein großes Interesse daran, für den Fall einer
Eroberung Konstantinopels ausreichende Maßnahmen für den
Schutz und die Erhaltung dieser Bibliothek getroffen zu sehen.
Antonia M u n o z, der im Marzoccs den Kostbarkeiten dieser
Sammlung einen interessanten Aufsatz widmet, weist darauf hin,
daß diese Bibliothek zugleich wohl die am wenigsten besuchte
der Welt ist; seit dem Jahre 1850 ist es nur wenigen europäischen
Gelehrten gelungen, durch Empfehlungen und mit Hilfe ihrer Bot
schafter Zutritt zu diesem brachliegenden Heiligtum der Wissen
schaft zu erlangen. 1905 setzte es Munoz mit Hilfe des österreichi
schen Botschafters nach langer Mühe durch, von Abdul Hamid
die Erlaubnis zur Benützung des Bibliotheksaales zu erlangen.
In dem schönsten Kiosk des Serails sind hier unschätzbare Samm
lungen alter persischer und arabischer Handschriften angehäuft,
rieben türkischen, koptischen, griechischen und lateinischen
Manuskripten, die zum großen Teil aus Klosterbibliotheken
stammten. Munoz hat naturgemäß nur einen geringen Bruchteil
dieser Schätze kennen lernen können; er berichtet von einer
griechischen Bibel aus dem 13. Jahrhundert, die mit mehr als 300
prächtigen Miniaturen illuminiert ist und eine wertvolle Ergän
zung der in der Vatikansbibliothek vorhandenen Bibel bildet. Sic
enthält die ersten acht Bücher der heiligen Schrift und die Minia
turen gemahnen überraschend an die berühmte Josuarolle des
Vatikans, an jene frühchristliche Bilderhandschrift, deren Ent
stehung auf das fünfte oder sechste Jahrhundert zurückgehen soil.
Man findet Stil und Motive dieser Konstantinopeler Miniaturen
auch in den Mosaiken von Santa Maria Maggiore und in anderen
Monumenten, des 5. und 6. Jahrhunderts, so daß man es in dem
Exemplar des alten Serails offenbar mit einer wertvollen Kopie
nach einem älteren unbekannten Vorbild zu tun hat. Unter den
anderen Handschriftenschätzen, die in jener türkischen Bibliothek
verwahrt liegen, erwähnt Munoz auch eine Ilias, die aus dem
13. Jahrhundert stammt, ein Fragment des Euklid aus dem 12.,
einen illustrierten Ptolomäus aus dem 15. Jahrhundert, einen Pin-
dar, einen Ossian und einen Polybios aus der gleichen Zeit. Eine
Reihe von Indizien aber weisen darauf hin, daß eine genaue
Durchforschung der Bibliothek und ihrer großen manuskript-
gefüllten, bisher nicht zugänglichen Kellerräume unter anderen
Ueberraschungen wahrscheinlich auch eine bedeutsame Ent
deckung zeitigen könnte: es ist Grund zu der Annahme vorhan
den. daß sich in diesen Kellergewülben bisher unbekannte Ka
pitel des Titus Livius vorfinden müssen.