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Objekt: Alte und Moderne Kunst XI (1966 / Heft 85)

„Dialogo sopra i due massimi sistemi de 
mondo" (1632) erkennt und statuiert er, 
daß die gleichen Gesetze, denen die Welt 
des Menschen untersteht, auch die Himmels- 
körper regieren. Damit fällt endgültig die 
Vorstellung eines vom göttlichen Willen 
regierten Kosmos, der nunmehr mathe- 
matisch errechenbaren Gesetzen untersteht, 
während die ideale Kugelgestalt des 
Universums durch die Entdeckung ellip- 
tischer Bahnen stark erschüttert war. Auf 
einem ähnlichen Weg entwickelt sich die 
Mathematik, wo nunmehr, in einer fast 
ununterbrochenen Kette von Einzelunter- 
suchungen, die Inßnitesimalmathematik be- 
gründet wurde. Wohl hatten schon die 
Griechen die Existenz eines Unendlichen 
erkannt, so wie sie auch die irrationalen 
Größen kannten, aber die diesbezüglichen 
Untersuchungenß blieben individuelle Lei- 
stungen genialer Vorläufer und wurden 
nie zu einem System erhoben. Nun aber 
beginnt die Entwicklungsgeschichte des 
Inßnitesimalkalküls. An der Spitze stehen 
Fermat und Descartes, die ungefähr gleich- 
zeitig,zwischen 1630 und 1640, das unendlich 
Große und das unendlich Kleine als 
mathematische Werte einsetzen7. Descartes 
erkennt die Identität von Algebra und 
Geometrie, die algebraische Form ist dem- 
nach sowohl Zahl als auch räumliche Form 
und verbindet so zwei getrennte Sphären: 
die des reinen Denkens und die der An- 
schauung. Pascal erweitert die Methode 
des Iniinitesimalkalküls durch die Wahr- 
scheinlichkeitsberechnung. (Nachdem be- 
reits 1619 Napier eine Vorläuferin unserer 
trigonometrisch-logarithmischen Tafeln her- 
ausgebracht hatte.) lm Jahre 1655 führte 
Wallis das Symbol für „Unendlich" ein, 
in der Form, wie es heute noch besteht. 
Mit den Untersuchungen von Leibnizä 
wird dieser Begriff weiter ausgedehnt und 
gleichsam popularisiert (eine der „unend- 
liehen" Reihen trägt heute noch seinen 
Namen: die Leibnizreihe). Dies sind einige 
der wichtigsten Etappen auf dem Weg der 
Erforschung des Unendlichkeitsbegriffes, 
dessen Eroberung simultan von der Mathe- 
matik und der Astronomie her erfolgte. 
Es kann kaum bezweifelt werden, daß 
diese Entdeckungen, die zu neuen Denk- 
formen, zu neuen Denkinstrumenten, zu 
einem neuen Denksystem und schließlich 
zur Entdeckung neuer Zeit- und Raum- 
dimension geführt haben, die allgemeine 
Bewußtseinslage bestimmen mußten. Jede 
geistige Schöpfung untersteht den Denk- 
voraussetzungen ihrer Zeit, oder wie 
Gombrich es formuliert: „The style of 
a given period depends on its terms cf 
referenceml. Auch von seiten der Lin- 
guistik kommt eine ähnliche Bestätigung: 
„N0 individual is free to describe nature 
with absolute impartiality but is constrained 
to certain modes of interpretation even 
while he thinks himself most free" 10. 
Lukacs erkennt diese einheitliche Struktur 
des Geistes, die auch das formende Prinzip 
der Kunst wird: „We comptehend art as 
a peculiar manifestation of the reilection 
of reality, a manifestation Which itself is 
but one among vatious forms of the 
universal relationship of man to reality, 
of man's refiection of reality. Aesthetic 
reHection . . . sets out from the world of 
man and is directed towards it, . . . every 
typical form of relatedness to human life 
is included in it, so that its appearance 
corresponds to the particular stage of 
man's interior and exterior development. 
This means that every aesthetic formation 
includes - and takes its place - in the hic 
et nunc of its genesis" 11. 
S0 ist es nur selbstverständlich, daß die 
Darstellung des Raumes in der bildenden 
Kunst wie auch seine dichterische Be- 
schreibung in Werken der Literaturll, so- 
wohl die des konkreten Raumes, d. h. des 
künstlerisch gestalteten Freiraumes in der 
Architektur, als auch die seiner Transposi- 
tion in die zweidimensionale Bildebene, 
von den wissenschaftlich begründeten oder 
auch nur herrschenden Raumvorstellungen 
der Zeit ausgeht, mit anderen Worten, daß 
die astronomische Weltraumvorstellung mit 
der jeweiligen gestalteten Raumform iden- 
tisch ist. 
Panofskyll hat dieses Prinzip für das 
Architektursystem der Hochgotik erkannt: 
„Und wiederum ist die perspektivische 
Errungenschaft nichts anderes als ein 
konkreter Ausdruck dessen, was gleich- 
zeitig von erkenntnistheoretischer Seite 
her geleistet war." Der Gelehrte Endet die 
gleiche Beziehung in der Renaissance, in 
der es sich gleichfalls darum handelt, „den 
Bildraum grundsätzlich aus den Elementen 
und nach dem Schema des empirischen 
Sehraumes auszubauen" 14. 
Ftancastel, zum Teil in direktem Anschluß 
an Panofsky, erkennt ebenfalls, daß ein 
gleiches Formprinzip das Denken und die 
Vorstellungswelt einer gegebenen Epoche 
beherrscht, erweitert es aber, indem er den 
sozialen Voraussetzungen eine entschei- 
dende Rolle zuschreibt: „Le mode de 
Eguration plastique de la Renaissance est 
parfaitement adapte a un certain e'tat du 
progres seientiFique et social de l'hu- 
manite"l5. Und im selben Sinne noch 
einmal: „l'espace de la Renaissance . . . est 
un systeme parfaitcment adapte ä une 
certaine somme de connaissances. On ne 
peut le compendre qu'en fonction des 
habitudes sociales, economiques, scienti- 
fiques, politiques, en fonction des mreurs 
du temps" 16. Vielleicht ließe sich darauf 
erwidern, daß Francastel zu dogmatisch 
ist, daß es sich nicht unbedingt um eine 
so direkte Kausalität zwischen den künst- 
lerischen Formen und den Infrastrukturen 
handelt, daß jene nicht „en fonction" 
dieser sind, sondern daß vielmehr gleiche 
Konzepte, gleiche Denkvoraussetzungen 
bei der Genese der verschiedenen Kultur- 
sphären mitwirken. Malraux drückt sich 
im gleichen Sinne, wenn auch vorsichtiger, 
aus und meint, es handle sich darum 
„de mettre en rapport les lois, le systeme 
cosmique avec les lois esthetiques". 
S0 steht dieses Prinzip von der Einheit 
der Grundvorstellung einer Zeit, dieses 
„hic et nunc", am Anfang jeder künst- 
lerischen Gestaltung sowohl der inneren 
Ordnung ihrer konstitutiven Mittel als 
auch dieser Mittel selbst: „Never yet has 
a significant work of art taken shape 
without creatively bringing to life the 
respective historical hic et nunc at the 
portrayed moment . . . and . . . even in the 
discovery of truth in mathematical or 
pure natural science the pnint in time is 
never accidental" 17. 
Und so ist in letzter Instanz die Geschichte 
der Kunst und die Geschichte ihrer Stile 
die Geschichte der Ideen dieser Zeitß. 
Nicht weniger aber als für das späte Mittel- 
alter oder für die Renaissance mußten die 
ANMERKUNGEN 6-18 
ß SDWOhl das s. POSIHIIK (oder je narh Lesart das n. Axiom) 
Euklids spricht von dei Unendlichkeit. Ebclm) konnu: 
du BcgriB" einein Genie wie Ärlthimtdti nieiii Cnläthen, 
CbCnSO Apollonius bei der Knnslrukliun von l- 
schnitten, von Hypcrbdn ndei Parabeln. die 0 ene 
Kurvm sind. sich dniiei irgendwo ins Grenzenlose ver- 
liercn: so iniißie niieii diiieb di: KOnstruklion von 
Aiyinpinien ein btunruhigcndn ceriiiii einee-eeen. Aber 
wie bei {nationalen Zahlen lag ihre Erkenntnis außerhalb 
jeder Wahmchmungßgfrnzc und wurde daher niChl nir- 
gcnommcn. So wie die Null" konnte vom griechischen 
Geist lllCh das „Nieiin- niebi vrfalßl werden; die EH!- 
dcckung der Niin blieb innen vorenthalten und wnnie 
von den Indem geiiiaelii. 
v nie diesbezüglichen Aibeiien beider ceierinen cyschirnvn 
  
m: gleichzeitig, Beweis, wie sehr die Probleme reif 
eworden Waren: Fsrmals „Mzthodus de Maximis u 
inimis" im 1mm was, Dcscarrcf Jläomclric" und 
seine „Rcgulac 2d dircclionnn in ' m1. 
Vor allem durch seine 1684 crsc lcncnc Axbcit: Nova 
mClhodlls pro maximis er minimls. 
E. H. Gomblirh, Art llld Illusion, London. 
Benj. Lec-Whorf. Collecrcd Papers on Mclalinguistic. 
G.Lukäcs, lnuoduction (o a monogrzph on aeslhcucs, 
in: "n: new Hungarian Qdmmy". Nr.14v VoLV 
(wo das (Ente Knpiul d" ungarisch erschicncnm Arbeit 
in einer englischen Übrrselzung vorliegt. Es isz Zll wün- 
srhzn, dm diese wichtige Arbeit bald in :incr dculschen 
Übersetzung zugänglich wird), 5.6517. 
I1 Willy Syphcr. Four slqgcs of Rcnaisancc Slylc, New 
Yotk 1956. hat dizsc Übereinstimmungen bcsondcls in 
u 
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15 
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der Literatur weitgehend unzenuchx. 
Erwin PmofSKy. Perspektive 215 symbolische Form (Vor- 
träge der Bibuduiek Wzrburg. 1924125). 
Panofsky. 1. c.. und: "nie Codex Huygend Ind Leonardo 
da Vincis an rnenry (Piexponl Morgan Library Codex. 
M. A. 1139) 
Francastel, l. c" S. 46. 
Francastcl, l. S. 47. 
 
Lukäß, 1. 6., s. es. 
Rudolf Willkower. Architccturzl yrinciplcs in thc lgt 
of Hurnanism, London 1962. s.11 m. hat auf die enge 
Beziehung zwischen der Architektur des cinqneeenrn 
und der Struktur der zeitgenössischen Musik hingewiesen 
und wie sehx beide von der Vorstellung eines harmoni- 
scheu, von mathcmitisrhtn Gcsctu-n regienen Kosmos 
bedingt sind. 
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