MAK
Kummer 11 
internationale Sammler-Zeitung. 
Seite 163 
Das Kind in der Kunst. 
Von Hermann Hlenkes (Wien). 
n einer Zeit, die sich dem Kinde und seiner 
Psychologie mit einer nielfaltigen Teilnahme 
zugecoendet hat, durfte ein Buch, das dem Gin- 
zuge des Kindes in die bildende Kunst non 
den frühesten Perioden bis zur Gegenwart nach 
geht, nicht fehlen. Gin solches bietet lltela : 
Gscherich mit ihrer im ?ranckh’schen Verlag 
in Stuttgart erschienenen, reich illustrierten 
Schrift. Diese Kapitel sind non einer herzlichen 
Ciebe zum Gegenstände erfüllt und sie sind 
interessant durch den weiten, roechselnollen 
Gntwickelungsweg, der in all seinen Phasen 
abgeschritten wird. Wh blichen in die holdeste, 
oerklärfeste Welt des künstlerisch nachgebildeten 
Kindes oom Primitioen bis zur höchsten Voll 
endung. Gine wissenschaftliche Abhandlung, die 
zum Gedicht, zum Bekenntnis mütterlichen Gmpfindens 
wird, das ist dieses schöne, geistoolle Buch. Wie die 
Kunst non der Physis bis zur Seele des Kindes gelangte, 
wird uns erzählt. 
Von der Darstellung des ITlenschen und seiner 
Jndioidualität kam die Kunst zum Kinde, oom 
Ideal zum Unfertigen. Das Kind mit seinem Im 
puls, seiner fortwährenden physischen Veränder 
lichkeit und seiner ganzen Primitioität gibt dem 
Künstler eine Gülle non ITlotioen, die unerschöpf 
lich bleiben. 
Wenig beschäftigte sich die Kunst des Alter 
tums mit dem Kinde. Der oollentwickelfe ITlensch 
bildete ein noch unüberwältigtes Problem, war 
das Ideal des Künstlers und das Kind wurde noch 
nicht als Jndioidualität an sich betrachtet, sondern 
als Verkleinerung des ausgewachsenen ITlenschen, 
Den Ägyptern war der Berufsmensch, der Regent, 
der Krieger und Arbeiter das einzige künstlerische 
Sujet. Die Assyrer wandten sich dun mytholo 
gischen zu und wurden non der ITlystik stärker 
als non der lebendigen Grscheinungswelt ange 
zogen. In die Kunst trat das Kind zuerst bei den 
Griechen ein. Gin starker familiensinn, der dem 
klassischen Volke eigen war, führte auch die 
Kunst zum Kinde hin, dem in den drei Gpochen 
der antiken Kunst eine oerschieden geartete Rolle 
nung fehlt der älteren griechischen Kunst zunächst noch. 
Auf den attischen Vasen jener Zeit erscheinen Kinder oft 
in den nerkleinerten Proportionen non Gewachsenen. Gs 
wird ohne Kenntnis seiner Psyche in Beziehung zu den 
Gewachsenen gebracht, mutter und Kind bleibt das einzige 
JTlotiü, das dem späteren Aladonnenbild oorangeht. Von 
ausgeprägterem Realismus ist die Kleinplastik, die sich in 
Tanagra ausbildet. Wir finden hier den Alltag und das 
Volk gespiegelt und da fehlt schon in stärkerer Jndioiduali- 
sierung, allerdings noch immer im Zusammenhang mit 
Gewachsenen, auch das Kind nicht. 
Die eigentlichste Welt des Kindes wird erst in der 
griechischen Spätkunst erschlossen. Das Bewegte und Be 
wegliche übt hier den Reiz zur Darstellung aus, das Kind 
wird in seinen Spielen beabachtel, in seinem Geben und 
Treiben, und bekommt so schärfer geprägte Wesenszüge. 
Wir haben ein antikes Rokoko nor uns und seine Sinn 
lichkeit schafft als Gegengewicht ein kindhaftes Giern ent in 
der Kunst. Das Kind als flatternder Amor, im Kampf mit 
Haustieren wird in reizenden Statuetten dargestellt. Die 
5icj. I. Dnnafello: Rolief der freikanzel am Dom zu Prato: 
zufiel. In der archaischen Zeit, die sich non 600 bis unge 
fähr 470 nor Christi erstreckte, wird das Kind lediglich als Glied 
der Gamilie aufgefafjt und dargestellt. Aus einem innigen 
Gefühl der unzertrennlichen Zusammengehörigkeit gab man 
sich dem Totenkult hin, der auch in der Plastik einen 
ergreifenden Ausdruck fand, man schmückte die Grab 
altäre und Grabtempel mit plastischen Gebilden, die ohne 
Rührseligkeit Abschieds- und Wiedersehenszsenen zwischen 
Toten und Hebenden darstellten. Um den Tod wird Schön 
heit gebreitet und die Gestorbenen erscheinen nicht als 
Skelette und Schemen, sondern in unoersehrter körper 
licher Schönheit. 
Gin ITlotio wiederholt sich in der Kunst dieser Gpoche 
immer wieder: die mutter, die das Totenreich nerläfjt, um 
ihr Kind wiederzusehen. Die Szene wird gleichsam ohne 
Tränen und Trauer gegeben. Zärtlichkeit ist das einzige 
oormaltende Gefühl in dem antiken Gmpfinden. Der Blick 
für das Wesentliche und Typische der kindlichen Grschei- 
alternde Antike gibt dem Kind gleichsam das letjte Wort. 
Gs wird als Putto ein mittler zwischen alter Gestalten 
welt und der neuen. Putten sind an die Wände der Ka 
takomben und an Sarkophagen angebracht. 
Die christliche Welt tut sich auf. Die italienische 
frührenaissance eignet sich die antike Schönheit an, gibt 
ihr mit ihrem wilderen Temperament auch einen neuen 
Geist. Wieder sehen wir Putten in allen künstlerischen 
Darstellungen, aber rücksichtsloser behauptet sich hier das 
stampfend, lachend und schreiend dargestellte Kind. Gs 
entstehen die oon Teben überquellenden Prachtbuben Do- 
natellos und L'uca della Robias. lllit Putten schmückt man 
die Fassaden der Häuser und Kirchen, die Brüstungen, 
Brunnen und Grabmäler. Witjig, zierlich oder behäbig sind 
die Putten Desiderio da Settignanos, ITlino da Giesoles, 
ITlajanos und der beiden Rosselinos. Das sind Gngel ohne 
Glügel, Gassenbuben. Gs kommen in diesen Plastiken auch 
Wickelkinder nor — ein Beweis, in welcher Weise man
	        
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