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internationale Sam m 1 er-Z e i t u n g. 
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Ideen in die form einer anmutigen Erzählung kleidete, 
nicht aber, wenn er eine trockene gelehrte Abhandlung 
geschrieben hatte. Hiezu kam sodann noch ein Umstand. 
Die erste Ausgabe der „Utopia“ erschien 1515, kurz oor- 
her war Amerika entdeckt morden, und die gesamte ge 
bildete Welt Europas lechzte förmlich nach Berichten über 
die amerikanischen Verhältnisse. Wenn daher der gedachte 
roeitgereiste Seefahrer mitfeilt, dalj die Insel „Utopia“ in 
der Rahe „des neuen Kontinents“ gelegen ist, so konnte 
niorus mit Sicherheit darauf rechnen, dafj sein Buch oan 
aller Welf mit dem größten Interesse merde gelesen roerden. 
Der Vorgang des Rlorus rourde norbildlich, alle nach 
der „Utopia“ erschienenen Staatsromane oerlegen den 
Schauplafj ihrer Begebenheiten nach dem neu entdeckten 
Weltteile, d. i. anfänglich nach Amerika und später nach 
Australien. Und da im Romane denn doch berichtet roerden 
mufj, auf roelche Weise der Erzähler in das betreffende 
Cand kam, so nimmt die Beschreibung der Reise immer 
einen geroissen Raum in dem Buche in Anspruch, und an 
dieser Stelle beginnt die Scheidung. Die Beschreibung der 
Reise und die Schilderung der Wirtschaftsordnung in dem 
betreffenden Cande stehen sich in jeder der gedachten 
Schriften gegenüber. Während aber bei Thomas lltorus 
und seinen ersten Rachfolgern die Schilderung der Wirt 
schaftsordnung die Hauptsache ist, überrouchert bei den 
Späteren die Beschreibung der Reise derart, dalj sie 
schließlich fast allein übrig bleibt und die Wirtschafts 
ordnung des fraglichen Volkes in den Hintergrund tritt, 
(einzelne dieser Schriften, roie etroa die bekannten „Gullioers 
Reisen“ oon Sroift, oder „Rikolaus Klims unterirdische 
Reise“ des dänischen Schriftstellers Holberg sind Satiren 
auf bestehende Sitten und (Einrichtungen. 
Die zroeite Gruppe der „Utopien“ sind — roie bereits 
im Gingange bemerkt rourde — die „Zukunftsbilder“ und 
Prophezeiungen. IRanche oon ihnen, roie beispielsweise 
Rlerciers „L’an 2440“ sind politischen Inhaltes und 
schildern die staatlichen und gesellschaftlichen Zustände 
einer fernen Zukunft. Die neueren Schriften dieser Art 
gehen oon den fortschritten der Raturroissenschaften und 
der Technik aus und oersuchen es, ein Bild daoon zu ent- 
roerfen roie sich das menschliche leben gestalten roird, 
roenn mir alle jene (Errungenschaften besitzen roerden. Die 
gehofften (Errungenschaften oon denen aber freilich so 
manche in der Zwischenzeit bereits oerroirklicht wurden — 
sind: die Verflüssigung der Gase, Unterseeboote, Flug 
apparate, der Fernsprecher, die Fernphatographie, bzro. die 
Tatsache, dafj das Bild eines weit entfernten ITlenschen 
mit allen seinen natürlichen Bewegungen sich auf einer 
roeifjen Wand mit photographischer oder kinematographi- 
scher Treue projiziert, die Herstellung grofjartiger Bauten, 
die (Erzeugung oonRahrungsmitteln direkt aus anorganischen 
Stoffen, die Schaffung oon hoch oben in der Cuft schweben 
den Gärten, die Rlöglichkeit, unter dem Wasser zu leben, 
die (Entdeckung riesiger Höhlen im (Erdinnern, die durch 
künstliche (Erleuchtung und (Erroärmung zum Aufenthalte 
für IRenschen eingerichtet roerden, die Rlöglichkeit, auf 
andere Planeten zu gelangen u. dgl. m. Wenn man roill, 
kann man die Zukunftsbilder auch wieder in zwei Gruppen 
bringen, in die friedlichen und die kriegerischen Zukunfts 
bilder. Die einen begnügen sich damit, die Herrlichkeiten ! 
des menschlichen Tebens in kommenden Jahrhunderten 
oder Jahrtausenden auszumalen. Da aber die Raubtier 
natur des IRenschen sich nicht austreiben läßt und die 
IRenschen bei jeder neuen (Erfindung darnach forschen, ob 
sie sich nicht etroa im Kriege oerwerten lassen könnten, 
so befassen sich zahlreiche „Zukunftsbilder“ damit, die 
Zukunftskriege zu schildern, die selbstoerständlich .zum 
gräfjten Teile in den triften geführt roerden. Dafj dabei 
jedesmal dasjenige Volk als Sieger heroorgeht, dem der 
betreffende Autor angehört, ist selbstoerständlich. 
Den Zukunftsbildern nahe oerroandt, sind diejenigen 
Romane — ich möchte sie als die „siderischen“ be 
zeichnen — die sich mit den Vorgängen auf anderen 
Himmelskörpern befassen. Anfänglich war es besonders 
der JRond, dessen mutmafjliche Bewohner die Phantasie 
der IRenschen besonders beschäftigten, heute ist es bekannt 
lich der Illa'rs, und so besitjen roir denn auch schon eine 
recht stattliche Anzahl oon Schriften, in denen die IRars- 
bewohner und die Frage der Herstellung einer Kommuni 
kation zwischen dem IRars und unserer (Erde eine Rolle 
spielen. 
Zwischen den naturwissenschaftlichen Zukunftsbildern 
und den „siderischen“ Romanen besteht eine gewisse innere 
Verwandtschaft. Die gedachten Zukunftsbilder sind das Re 
sultat eines konsequenten naturwissenschaftlichen Denkens, 
welches zeigt, wohin der bisherige (Entroickelungsgang der 
Raturroissenschaften führt, und tatsächlich haben diese 
Zukunftsbilder mitunter die künftige (Entwickelung richtig 
oorausgesagt. ln ähnlicher Weise gehen die Verfasser 
der „siderischen“ Romane oon der Tatsache aus, dalj 
unsere (Erde unter den gegebenen Verhältnissen die be 
kannten Ceberoesen heroorgebracht hat und suchen auf 
dem Wege des deduktioen Denkens eine Vorstellung daoon 
zu gewinnen, roie ungefähr die Ceberoesen beschaffen sein 
müssen, die ein anderer Planet heroorgebracht hat, wenn 
er größer oder kleiner ist als unsere (Erde, roenn seine 
Umlaufszeit um die Sonne die und die Dauer hat, roenn 
die Temperaturoerhältnisse auf jenem Himmelskörper die 
und die sind etc. etc. 
Das ungefähr sind die Gesichtspunkte, unter roelche 
man die zahlreichen, zur Gruppe der „Utopien“ gehörigen 
Schriften subsummieren kann, eine scharfe Abgrenzung 
aber der „Utopien“ oon der sonstigen Citeratur ist un 
möglich. 
* 
Den interessanten, allgemeinen Ausführungen des Gelehrlen 
sei beigefügt, dafj der «erstorbene Wiener Kunstschriftsteller Cudwig 
Heuesi eine Utopien-Bibliothek hinterlassen hat, die inbezug auf 
ihre Reichhaltigkeit einzig dasteht. Sie umfafjt nahezu das ganze, 
zum Begriffe der utopistischen Citeratur gehörige Gebiet. Alles, 
was sich auf die lleugestaltung der besten aller Welten und ihrer 
Bewohner, die Verbesserung ihrer sozialen, politischen und ethischen 
Verhältnisse bezieht, hat in Henesi, selbst ein Idealist im idealsten 
Sinne des Wortes, einen begeisterten Sammler gefunden. 
Die Bibliothek, die mit dem sonstigen Bücherbesit; Heoesis 
uon Gilhofer & Ranschburg in Wien erwarben wurde, ist 
bereits geordnet und katalogisiert. Der Katalog gelangt aber uor- 
läufig nicht zur Ausgabe, da die ?irma Unterhandlungen wegen 
Cnbloc-Verkaufs der Bibliothek eingeleifet hat. Gs wäre wirklich 
schade, wenn die Sammlung Heoesis nicht oor dem Schicksal be 
wahrt bliebe, in alle Winde zerstreut zu roerden. Sie würde es 
oerdienen, in ihrer Gesamtheit eine konsultatioe Zentralstelle für 
alle, die Zukunftstheorie im weitesten Sinne des Wortes behandeln 
den 5ragen zu werden.
	        
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