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Internationale Sammler-Zeitung.
Flummer 8
Die Onsichtskarte in der Schule.
Vom Professor Rudolf Wilhelm (Karlsruhe).
Die Herstellung oon Ansichtspostkarten hat mit dem Auf
schwung unserer Kunstdruckoerfahren einen gewaltigen Umfang
angenommen und ist zu einem förmlichen Industriezweig geworden.
Und zwar mufj man nach einem Vergleich unserer einheimischen
Erzeugnisse mit denen des Auslandes Deutschland hierin die Führer
schaft zuerkennen, trotz der erstarkenden englischen Konkurrenz.
Bei den romanischen Rationen hat diese Industrie die Kinderschuhe
überhaupt noch nicht abgestreift. Jn Deutschland findet man die
„illustrierte Postkarte“, wie sie anfänglich hieß, in jedem Cand-
städtchen, ja jedem größeren Dorf, das irgend ein romantisches
Gäßchen, eine alte Stadtmauer, eine anmutige Häuserflucht aufzu
weisen hat. In Städten gar ist die Zahl der Ansichten oon Strafen,
Gebäulichkeiten, Denkmälern, Anlagen heute schon unübersehbar.
Und wer hätte an landschaftlich heroorragenden Plänen, an Aus
sichtspunkten, Ruinen, Wasserfällen sich nicht schon geärgert über
die bis zum Überdruß angebotenen Ansichtskarten!
Wir besitzen aber nicht nur die meisten, sondern wie schon
angedeutet auch die besten Karten. Und noch immer oeroollkamm-
nen sich die technischen Verfahren, sadaß man sich angesichts der
neuesten, sorgfältig reproduzierten „Künstlerkarten“ manchmal zu
dem Geständnis gedrängt fühlt: mehr und Besseres kann man auf
einer Postkarte für zehn oder fünfzehn Pfennig schlechterdings nicht
mehr oerlangen. Die Postkarte hat sich zu einem kleinen Kunst
werk entwickelt, — selbsfoerständlich gebührt diese Bezeichnung
nicht dem überall oerbreifeten trioialen, obszönen, bigotten und
geschmacklosen Schund.
Wenn sie aber kleine Kunstwerke sind, so stellen Ansichts
karten einVolksbildungsmittel dar, das sich für die Verwendung
im Schulunterricht empfiehlt. Zufällig und ganz planlos begann
ich uor ein paar Jahren, meinen Schulkindern auf dem Cand hie
und da ein paar Karten zu zeigen, die sich auf den gerade be
handelten Cehrstoff bezogen: Eandschaften, Städte, Gebäude, Bilder
usw. was man ihnen oorher mit Worten geschildert und so gut
als möglich anschaulich gemacht hatte, erblickten die Schüler nun
auf einem — wenn auch kleinen — Bildchen. Immer haben sie
mit freudiger Überraschung das Vorgezeigte betrachtet, und wieoiel
Rußen daraus für ihr Interesse am Gegenstand selbst wie für die
Unterstützung des Gedächtnisses entspringen kann, brauche ich
wohl nicht besonders auszuführen.
Die Postkarte läßt sich oerwenden zur Illustration des ge
schieht ichen, kunsthistorischen, zoologischen, geographischen und
sprachlichen Unterrichts, ja sie ist als heroorragendes flnschauungs-
■ *'el in mancher Hinsicht geradezu unersetzlich. Wohl besitzen
• -n b-ss-ren Schulen ein paar große Kartons mit An-
a'erj- für oerschiedene Cehrfächer. Aber jedermann
weig, was es meist für ein Schund ist; alte, einfarbige Reprodukti
onen in graubraunem oder schmuiziggrünem Ton, undeutlich und
oerschwommen, Bilder, die den Eindruck des Originals nicht ent
fernt ahnen lassen. Wie soll man angesichts eines solchen schokolade-
farbenen Bildes dem Schüler eine Idee geben, oon der goldgrundi
gen ITlosaikpracht der ITlarkuskirche oder der leuchtenden Röte des
Otfo-Heinrichbaus? Hier tritt die künstlerisch empfundene und gut
wi ’dergegebene Ansichtskarte in ihr Recht; sie hat uor den meisten
unserer bisherigen Anschauungsmittel das natürliche Kolorit und
die künstlerische Auffassung ooraus. Unersetzlich isf sie aber auch
wegen ihres wohlfeilen Preises. Bei allen ITlängeln der Ausführung
isf unser älteres Anschauungsmaterial nicht einmal billig, sodaß
die Schulen alljährlich nur Weniges anschaffen oder erneuern können,
ln Kartenform dagegen läfzt sich um wenig Geld oiel zusammen
kaufen, was hauptsächlich bei kleineren Volksschulen auf dem
Cand ins Gewicht fallen dürfte.
Ich sammle auf Reisen im In- und Ausland planmäßig alle
solche Karlen, die mir für den Unterricht oerwendbar scheinen. Für
jede Ration lege ich ein Album an, das nach oier Gesichtspunkten
eingeteiif ist: Candschaften, Städte, Skulpturen, Gemälde. Daneben
existieren noch Spezialsammlungen mit IRusterstücken der oer-
schiedenen Baustile, mit altdeutschen Städtebildern, Volkstrachten
usw. Für Interesse und Ciebhaberei ist hier kaum eine Grenze
gezogen. Eine übersichtliche Anordnung der Karten ist aber zum
raschen Auffinden notwendig. Sowie der Cehrgegenstand es
wünschenswert erscheinen läßt, hänge ich ein paar Karten zur Er
läuterung in den Schaukasten, der in keinem besseren Schulzimmer
fehlt, und erkläre mit einigen Worten, worauf die Schüler zu achten
haben. So könnte jeder Cchrer wenigstens für sein Fach eine kleine,
die ihm zugänglichen Anschauungsmittel ergänzende Kartensamm
lung anlegen, die sowohl ihn als den Schüler interessieren müfzte.
Und wenn man auch nur erreichte, dofz der Schüler das Bild ein
mal anschaut, so wäre doch etwas gewonnen; doch etwas bleibt
immer hängen.
Roch oon einer andern Seite fällt ein günstiges Eicht auf die
Ansichtskarte. Ilion spricht so oiel oon Kunsterziehung. Hier hätte
man ein wirksames mittel zur Bildung des Geschmacks im
Volk. Ein Schüler, dem man regelmäßig gute Karten zeigt und
erklärt, lernt bald eine gute Candschaft, ein gutes Porträt oom
Kitsch unterscheiden, und für arme Candkinder, die nie im Ceben
eines der Wunderwerke der IRalerei oder Baukunst zu sehen be
kommen, oon denen sie in der Schule so hohe Töne gehört, für
die ist eine Kartensammlung ein wahrer Segen.
Die Postkarte bemächtigt sich allmählich alles Darstellbaren
und steigert so ihre Verwendbarkeit beim Unterricht. Sie schildert
uns Eeben und Treiben fremder Völker, zeigt uns Berge, llleere,
Städte und Flüsse ferner Cänder, führt uns durch Galerien und
ITluseen unseres Erdteils. Eine Fülle mertuoller Bildungsstoffe fördert
unsere Kartenindustrie zutage, und oon diesen reichen Schätzen
könnte mehr als bisher durch die Schule ins Volk geleitet werden.
Huch die Eitern können hier oiel leisten, indem sie den angeborenen
Sammeltrieb der Jugend zur Erweckung des Interesses an den oer-
schiedensten Gegenständen benützen. Knaben und lllädchen sammeln
gern Ansichtskarten; man gebe ihnen nur einige Fingerzeige zum
systematischen Sammeln, man gewöhne sie, nur wirklich guten,
geschmackoollen Sachen einen Platz im Album zu gewähren, dann
werden sie bald eine wertoolle Sammlung besitzen, an der sie sich
auch noch als Erwachsene freuen.
In Erkenntnis des grofjen Bildungswerfes guter Ansichts
karten wäre mein Ideal und' Vorschlag die Anlage einer gediegenen
Kartensammlung durch Cehransfalten jeder Art, besonders aber
durch solche Candschulen, deren Schülern ein umfangreiches An
schauungsmaterial sonst nicht zur Verfügung steht, — ein Vorschlag,
der sich, wie ich glaube, wohl ernsthaft erwägen läfzt. „Frkf. Zig.“
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