Nr. 19
Internationale Sammler-Zeitung.
Seite 289
dem geringsten Aufwand das meiste zu sagen wissen,
und zwar in der erschöpfendsten Form, sondern, noch
technischer betrachtet, ist er ein hervorragender Dar
steller. Die graphische Schönheit, die er seinen Radie
rungen abringt, ist schlechthin unvergleichlich. Zum
Beispiel der Reichtum der Lichtwerte auf »Zwei Men
schen«, oder die Feinheit im Licht auf dem Frauenkopf
(Frau H. R.), oder die Zartheit in dem wundervollen
Mädchenbildnis (Fräulein FL), wo er das Vibrierende
durch ganz leichte Roulettearbeit gibt. Dann die aus
drucksvolle Kraft in den Kaltnadclstichen auf »Weib
und Tod« oder die hinreißende malerische Gewalt seiner
Lithographien, die manchmal, wie in dem Selbstbildnis
von 1895 (Fig. 14), etwas direkt Samtenes im Ton haben.
Natürlich hat man von Munch oft gesagt und wird
es noch oft sagen, er könne nicht zeichnen. Das bleibt
keinem erspart, der sich seine eigene Form schafft, so
wie sie seinen eigenen Vorstellungen entspricht. Zeichnen
aber heißt heute nicht mehr Raffael imitieren oder Lehrer
an der Akademie sein wollen, sondern cs heißt heute
wie zu allen Zeiten: Die organische Form verstehen
und sie mit den erschöpfendsten Mitteln ausdrücken.
Nun, in diesem Sinne ist Munch Meister. Die Radierung
mit den beiden weiblichen Akten und dem Skelett zeugt
von einem Gefühl für Aufbau und äußeren wie inneren
Ausdruck des menschlichen Körpers, wie er sehr, sein-
selten anzutreffen ist, und wer das Blatt die »Mörderin«
gezeichnet hat, ist damit erhaben über solchen Vorwurf.
Dieser Akt ist nicht nur sehr schön, sondern auch, was
besser ist, hervorragend gut. Wer so zeichnen kann und
zeichnet nicht immer so, sondern meistens knapper,
kürzer, stenographischer, der sagt damit nur, daß ihm
Fig. 13. Munch, Mädchen mit rotem Haar.
im allgemeinen die Ausführlichkeit nicht erwünscht ist,
weil sic ihm die Kraft des Suggestiven lahtnlcgen würde.
»Zeichnen ist die Kunst, wegzulassen,« hat einmal ein
anderer moderner Meister der Zeichnung, Liebermann,
sehr treffend gesagt.
Es ist eine alte Erfahrung, daß bedeutende Künstler
sich in all ihren Arbeiten immer in ihrer ganzen Wesen
heit enthüllen. Ob man von Munch ein Drama sieht oder
einen Tierkopf, immer fühlt man den großen Psycho
logen. Er braucht nur ein Porträt zu machen und man
Fig. 14. Munch, Selbstbildnis.
hat den ganzen Mann. Beim »Ibsen« glaubte er noch
des allegorischen Beiwerkes nicht entraten zu können
und macht neben den Kopf eine Andeutung des Alltäg
lichen, als dessen dramatischen Meister Munch den
Ibsen ansieht; aber bei Strindberg, auch einem Ver
wandten seines Geistes, verzichtet er darauf und gibt
nur mit dem Ausdruck der Physiognomie mehr, als mit
allem Beiwerk erreichbar wäre. Und so ist es denn
immer bei ihm: Man braucht die Leute nicht zu kennen
und weiß doch, wes Geistes Kinder sie sind, dieser bis
zum Wahnsinn sensible Przybyczewsky, dieser dämoni
sche Obstfelder, dieser Henry van de Velde mit seiner
bohrenden Energie, dieser Smith, der ein Schauspieler
est und so aussieht, wie alle Schauspieler im Grunde
aussehen, der in einem Augenblick Coquelin gleicht und
im anderen Kainz, kurz, der die Seele des Schauspielers
auf seinem Gesichte trägt. Diese Porträts sind Meister
werke der modernen Kunst. Klar und fest, absolut ein
dringlich als Form, dabei von einem ganz seltenen
Reichtum des inneren Ausdruckes, der auch vor dem
Schwersten der Porträtbildncrei nicht haltmacht, dem
vergütenden Ausdruck auf dem Antlitz des jungen
Mädchens.
Noch eine Seitenbemerkung: Munchs Blätter sind,
besonders in guten Abdrücken, selten und sehr ver
streut. Eine derartig reichhaltige und gewählte Kollek
tion findet man nur in sehr wenigen öffentlichen Kabi
netten (Bremen, Budapest, neuerdings namentlich auch
Berlin) und in zwei oder drei Privatsammlungen in Ham
burg, Lübeck und Berlin.