MAK
Internationale 
Sammler-Zeifunfl 
Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde. 
Herausgeber: Norbert Ehrlich. 
6. Jahrgang. Wien, 1. Mai 1914. Nr. 9. 
William Morris 
und die Wiederbelebung der dekorativen Kunst. 
Von Amelia S. Levetus (Wien).* 
Künstler, Poet, Schriftsteller, Sozialreformer, 
tüchtiger Handwerker und vorzüglicher Geschäftsmann, 
»sechs verschiedene Persönlichkeiten in einer einzigen 
vereinigt«, so charakterisiert sich William Morris 
selbst. 
R u s k i n sagte einmal: »Die treibende Kraft, die ein 
edles Leben beseelt, läßt für immer eine Spur zurück, 
welche in die große Arbeit der Welt eingewebt ist.« 
Wenn dieser Satz auch mit Recht auf jedes tätige Leben 
bezogen werden kann, da alles, auch das an sich Kleine 
und Geringfügige, seinen Anschluß an das große Welt 
ganze findet, so scheint er doch ganz besonders für den 
produktiven Menschen zu gelten, für den Künstler, den 
Dichter, den Denker, den Reformator und natürlich in 
noch stärkerem Maße für das Genie, das verschiedene 
Arten der Produktivität in sich vereint. Denn, je mehr 
Schaffensgebiete ein Mensch besitzt, desto zahlreicher 
sind die Wege, auf denen seine Lebenskraft in »die große 
Arbeit der Welt« strömen kann. 
So hat denn auch das Leben William Morris viele 
bedeutsame Spuren zurückgelassen. Da er ein innig und 
stark empfindender Mensch war. tragen seine Dichtungen 
und seine Kunstwerke ein Leben in sich, an dem sich 
noch lange viele werden erfreuen und bereichern 
können. Seine Gedanken und Ideen haben auf die 
kulturelle Entwicklung seiner und späterer Generationen 
wichtigen Einfluß genommen. Sein großes geistiges 
Werk, die Vereinigung von Kunst und Kunsthandwerk, 
hatte weitestgehende Folgen. Dieser vielseitig begabte 
und vielseitig tätige Mann hatte aber auch noch das 
seltene Glück, daß sich ihm durch äußere und innere Ver 
kettungen ein Gebiet eröffnete, auf dem seine ver 
schiedenen hervorragenden Fähigkeiten urtid Talente, 
seine Energie, seine unermüdliche Arbeitskraft, seine 
reiche Phantasie, die ganze schöne Fülle seines gedank 
lichen und seines Emplindungslebens, zudem seine 
sozialen und nationalen Gefühle sich in harmonischester, 
glücklichster und wirksamster Weise zusammenfinden 
und vereint, Großes hervorbringen konnten. Dieses Ge 
biet war das Kunstgewerbe und hier hat William Morris 
* Nach dem Vorträge, der als Einführung in die William 
Morris-Ausstellung im Erzherzog Rainer-Museum zu B r ii n n 
diente. 
Einziges geleistet. Ihm vor allem ist die Wiederbelebung 
der dekorativen Kunst in England zu danken. 
Es ist ebenso richtig zu sagen: die Wiederbelebung 
der dekorativen Kunst überhaupt, denn das moderne 
Kunstgewerbe, auch der Staaten des Kontinents, lebt seit 
den um das Jahr 1894 vollzogenen Reformen zum großen 
Teil von dem Erbe und der Ernte der großen englischen 
sozial-ästhetischen Bewegung, die, von (den Gedanken 
Carlyles und Ruskins getragen, von der Künstlerschaft 
Rosettis, Burne Jones und vieler anderer gefördert, in 
der Hauptsache unter der geistigen, künstlerischen und 
kommerziellen Führerschaft William Morris stand. 
Diese Bewegung nahm in den Sechzigerjahren des 
verflossenen Jahrhunderts ihren Anfang. Vor dieser Zeit 
hatte der sich überall ausbreitende Kapitalismus, der jähe 
Aufschwung der Industrie und der Technik, der eine 
strenge und völlig nüchterne Zweckmäßigkeit mit sich 
brachte,, eine große Verarmung des öffentlichen und des 
privaten Lebens an künstlerischen Elementen zur Folge 
gehabt. In England waren auf dem Gebiete der Bau 
kunst die heute wieder wohlbekannten, schätzenswerten 
Architekten des 18. Jahrhunderts, wie Chippendale, 
Adams, Heppelwhite und Sheraton fast gänzlich in Ver 
gessenheit geraten, und gerade in diesem Lande, wo so 
viele schöne Beispiele mittelalterlicher Baukunst be 
standen, die in unseren Tagen wieder moderne Archi 
tekten, wie Newton, Voyscy, Ashbce, Bailic Scott an 
regten, gerade inmitten der wundervollen Landschaften 
mit den Feldern und Flüssen, die in unbeschreiblicher 
Schönheit sich im ruhigen Laufe schlängeln; gerade dorr 
wurde in einer kunstarmen Zeit eine Unzahl häßlicher 
Villen ohne Rücksichtnahme auf Landschaft und Um 
gebung erbaut. Ueberall ragten ungeheuere Fabriks 
schlote durch dichte Rauchwolken in den schwarzen 
Himmel, das Schöne auf dem Lande war allerorts in Ge 
fahr, von dem großen Wirbelsturm, der mit dem Aufstieg 
der Industrie in das Land, kam, hinweggefegt zu werden. 
Von den Folgen dieser Verheerung beginnt England 
erst heute sich wieder zu erholen, wiewohl man schon 
seit den Zeiten Morris' und über dessen Anregung es 
unternommen hat, die für Körper und Seele gleich schwer 
erträgliche, streng Militärische Ausgestaltung der 
Industriestädte durch die Anlage von Gartenstädten zu 
i mildern.
	        
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