MAK
Nr. 10/11 
Internationale Sammler-Zeitung 
Seite 137 
Erinnerungen eines Bibliophilen. 
Von Dr. Leopold Hirschberg (Berlin)*. 
Daß ich auf dem scheinbaren „Umwege“ über die 
Musik zum Bibliophilen im landesüblichen Sinne wurde, 
glaube ich als einen besonderen Glücksfall betrachten 
zu dürfen. Wiewohl es mindestens ebensoviel Freunde 
der Musik wie der Dichtung in der Welt gibt, so steckt 
doch die „Musikaliophilie“ bei uns noch völlig in den 
Kinderschuhen. Sonderbar. Ich kann es mir durchaus 
nicht vorstellen, inwiefern man nicht die gleiche Freude 
an einem Beethoven- wie an einem Goethe-Erstdruck 
haben, bezw. warum ersterer geringer als der andere 
bewertet werden sollte. In letzter Zeit werden aller 
dings von verschiedenen Antiquariaten schüchterne 
Versuche gemacht, das Interesse der Sammler dafür 
zu erwecken. Ohne Erfolg. Vielleicht ist das über 
wuchernde Musikdilettantentum teilweise daran schuld, 
das skrupellos Hand und Kehle an die erhabensten 
Werke legt, in der vorgefaßten Meinung, daß Spielen 
und Singen leichter als Lesen und Rezitieren sei. 
Das Sammeln von Erstausgaben unserer Ton 
dichter ist mit weit größeren Schwierigkeiten ver 
knüpft als das der Dichtererstdrucke. Zunächst gibt 
cs noch keinen musikalischen „Goedecke“ im Großen, 
sondern nur verschiedene Spezialwerke über einzelne 
Meister, wie das Thayersche über Beethoven, das 
Köclilsche über Mozart; Friedländers vortreffliches 
Quellenwerk über das deutsche Lied, das erschöpfend 
ein großes Gebiet zusammenfaßt, ist von gleichen 
Grundsätzen geleitet. Aber schon die „Platzfrage“ 
wird bei Musikalien, infolge des größeren äußern Um 
fangs der Werke, ein noch strengeres Veto einlegen als 
bei Büchern. Während,recht ausgiebige, private Bücher 
sammlungen aus der Zeit von 1750 bis 1850 (der be 
liebtesten Periode) existieren, muß der Musiksammler 
von „minores gentes" vollständig absehen und sich 
nur den Göttern und Heroen zuwenden. Sie in einer 
auch nur annähernden Vollständigkeit zu erlangen, ist 
weit unmöglicher als bei Büchern; Spezialsammlungen 
sind darum gerade hier besonders angebracht und 
wertvoll. 
Aber die Schulung des Auges zur Bibliophilie wird 
durch nichts besser bewirkt als durch das Musikalien 
sammeln. Denn da bei allen (die verschwindend ge 
ringen Ausnahmen kommen überhaupt nicht in Be 
tracht) die Jahreszahl des Erscheinens fehlt, worüber 
sich schon Beethoven aufs Bitterste beklagte, so muß 
das Auge einen Erst- von einem Spätdruck unter 
scheiden lernen. Mag der betreffende Händler oder An 
bieter eines Musikwerkes auch Stein und Bein schwören, 
daß es sich um einen Erstdruck handelt, ich für meinen 
Teil würde ihm stets wie Siegfried dem Mime sagen: 
„Dir trau ich nicht mit dem Ohr, 
Dir trau ich nur mit dem Aug’.“ 
Die Beschaffenheit des Papicres, die Ausprägung 
des Kupferplattenrandes, die Kraft des Stiches selbst 
und noch mancherlei Imponderabilien sind Dinge, die 
sich nur durch lange Übung erlernen lassen. 
Der Nachdruck schoß früher bei den Tonwerken 
noch weit üppiger ins Kraut als bei Büchern. Sind 
bei letzteren die Angaben „Frankfurt und Leipzig“ 
oder „Karlsruhe, Verlag der Klassiker“ oder „Reut 
lingen, bei Fleischhauer“ fast stets**) von vorneherein 
*) Dieser interessante Artikel ist wie der frühere, unter 
dem gleichen Titel erschienene (s. Nr. 9) dem „Berliner Börsen- 
courier“ entnommen. 
**) Der Krstdruck der. „Räuber" und verschiedener 
Werke des „Mahler Müller“ in „Frankfurt und Leipzig" sind 
hiervon auszunehmen. 
als schwer verdächtig zu betrachten, so flößt die An 
gabe „Bonn, bei Dunst“, „Braunschweig, bei Speer“, 
„Berlin, bei Lischke" usw. usw. dem Musiksammler 
Grauen und Abscheu ein. Die Nachdrtreker sind cs 
zumeist, die die Schuld an sich endlos hinschleppenden 
Druck- und Stichfehlern und den daraus erfolgenden 
falschen und dilettantischen Darbietungen der Werke 
tragen; da sie an die Meister keine Honorare zahlten 
und auch minderwertiges Material verwendeten, konnten 
sie weit billiger herstellen und verkaufen als die recht 
mäßigen Verleger. Und so wurden namentlich die Leih 
anstalten mit diesen üblen Erzeugnissen der Buch 
druckerkunst förmlich überschwemmt. 
Und gerade auf die Leihanstalten ist der Musik 
sammler fast ausschließlich angewiesen. Wir können 
mit Recht auf die wissenschaftlichen Buchantiquariats 
kataloge, wie sie in Deutschland ausgegeben werden, 
stolz sein; mit gleichen für das Notenantiquariat befaßt 
sich fast ausschließlich eine vorzügliche alte Berliner 
Firma, die aber meist nur alte und älteste Musik pflegt. 
Eine wissenschaftliche musikhistorische Bildung bei den 
Verkäufern in Musikalienhandlungen ist eigentlich fast 
nirgends anzutreffen. Wenn man nicht selbst ganz 
genau Bescheid darüber weiß, was und unter welchen 
der verschiedenen Abteilungen man zu suchen hat - 
von den bedienenden Jünglingen wird man ihn nicht 
erhalten. 
Häufig muß man, wenn man unter dem Wust wert 
loser Ausgaben endlich einmal eine wertvolle entdeckt 
hat, nur den (gewöhnlich ganz niederen) Neupreis (zur 
Neubeschaffung des Stückes für die Leihanstalt) zahlen. 
Wie zahllose, herrliche Dinge habe ich auf diese Weise 
vor dem unrettbaren Untergang bewahrt! Köstlich 
ist bei dieser Gelegenheit die meist überlegne, mitleidig 
hoheitsvolle Miene des Verkäufers, der den Kunden 
für einen beginnenden, sein Hab und Gut unverant 
wortlich verschenkenden Paralytiker hält. Man tut als 
dann gut, den Ausdruck einer „sanft und süß trauern 
den“ Melancholie (nach dem Vorgang des Loeweschen 
„Nöck“) in sein Gesicht zu legen. Ich nenne das den 
„verendenden Rehblick". 
So führte ich schon innerhalb des ersten Lustrums 
die Locwe-Sammlung auf einen hohen Grad der Voll- 
endung. Nur weniges fehlte noch. Auf meinen vielen 
Reisen wurde keine Handlung, und wenn sie infolge 
von Grammophonen und Ziehharmonikas in den Schau 
fenstern auch noch so wenig vertrauenerweckend aus 
sah, unbesucht gelassen. Habe ich doch selbst in einem 
Berliner Geschäft, das seinen Stolz darein setzt, die 
Nation nur mit den neuesten „Schlagern“ — „ge 
druckt in diesem Jahr“ zu beglücken, den Original 
partiturdruck der „Neunten“ in einem Exemplar ge 
funden, dessen fürstlicher Einband allein den Kaufpreis 
um das Fünffache überstieg! Die Handlungen der Städte, 
deren Besuch sich nicht ermöglichen ließ, wurden brief 
lich um Einsendung von Verzeichnissen ersucht. Was 
habe ich in meinem Leben in dieser Hinsicht geschrieben. 
Wie oft blieb ich ohne Antwort. Aber welche fieber 
hafte Erwartung, wenn der Paketwagen der Post, 
dessen melodisches Rollen ich allmählich schon auf 
die Entfernung vieler Meter von anderen profanen 
Fahrzeugen unterscheiden lernte, vor dem Hause hielt, 
der Bote die Treppe heraufkam: 
„Und ach 1 entrollst du gar ein. würdig Pergamen-, 
So steigt der ganze Himmel zu dir nieder!“
	        
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