Nr. 5
Internationale Sammler- Zeitung
Seite 73
durch diese Bände, durch die Stapel von Karikaturen
sich hindurchwandern. —- Nur zwei Blätter sind mir
wie Zeugen einer anderen Geisteswelt in Erinnerung
geblieben. Das eine von Daumier heißt „Paysage
1870“ und stellt ein weites Trümmerfeld dar, eine Ka
none in einer Scharte, kein Baum, kein Ilalm, nur Licht,
Tod und Schweigen. Und auf dem anderen sieht man
einen jungen Soldaten, der von seiner Braut Abschied
nimmt. „Wir werden eben nicht auf unserer Hochzeit
tanzen — Voila tout!" — Aber solche Töne sind selten,
verdammt selten in der französischen Kriegskarikatur
des Jahres 1870. Sie liegen wohl nicht auf der Linie
des französischen Wesens. Voss. Ztg.
Das Erdbeben und die Kunstwerke in Italien.
Kaum fünf Kilometer von Albe, am Rande der frucht
baren Ebene, welche die Römer Campi Palentini nannten
und an deren Südende der See von Fucino lag, breitete
sich das Städtchen Vlagliano de’Marsi aus, heute ein
trostloser, wüster Haufen von Steinen, Balken, Kalk und
Staub. Die Fassade der Kathedrale, jetzt formlos ver
stümmelt, bildete einst eine gewaltige Bilderchronik, die
dem Besucher eindrucksvoll die Geschichte des unglück
seligen Landes verkündigte. Ihre Hauptteile: die Portale
und die große Mittelrose, zeigen die einfachen, edlen Formen
früher Gotik und dürften um 1300 entstanden sein, ln die
gleiche Fassade sind jedoch sechs höchst interessante Reliefs
eingemauert, die offenbar einem früheren Bau, und zwar
der durch das Erdbeben von 1203 zerstörten, alten Kathe
drale angehörten. Sie stellen köstlich stilisie.te Ungeheuer
dar: Greifen, Löwen mit Menschenköpfen, geflügelte Löwen
im Kampfe mit zwerghaften Menschlein und sind treffliche
Beispiele jener eleganten, byzantinischen Renaissancckunst,
die im 11. Jahrhundert einsetzt und von der San Marco
in Venedig hervorragendes Zeugnis ablegt (z. B. in den
Engelstatuen an den Ecken der Vierung, an der Kanzel
usw.). Als ein neues Erdbeben (es ist zweifelhaft, sep qo
von 1627 oder von 1703) den oberen Teil der Fassade
zerstörte, fügte man bei der Restauration oberhalb der
gotischen Rose ein Barockfenster ein, dessen Verkröpfungen,
gebrochene Giebel und vorgestellte Säulen seltsam genug
dazu passen. Auch das jetzt vollkommen zerstörte Innere
wurde bei diesem Anlaß in barockem Stil erneuert.
Die Pfarrkirche von Rosciolo, einer Fraktion der
Gemeinde Magliano, wies zwei Portale aut, ein Frührenais
sance und ein spätgotisches Werk, das letztere mit der
lateinischen Inschrift: Im Jahre 1446 schufen Meister
Johannes und Martin dieses Werk. Diese Portale blieben
erhalten, dagegen wurde die Fensterrose schwer beschädigt,
ebenso das übrigens durch Umbauten entstellte Innere. Die
hier zugrunde gegangenen Fresken vom Beginne des 16. Jahr
hunderts waren herzlich unbedeutende Nachklänge umbrischer
Malerei. Das ursprünglich in dieser Kirche aufbewahrte
Prozessionskreuz aus dem Jahre 1334 befindet sich schon
seit einigen Jahren im Museum der Engels barg in Rom.
Eine halbe Stunde von Rosciolo entfernt erhebt sich
das uralte Kirchlein der einstigen Benediktinerabtei von
Santa Maria in Valle Porclaneta. Dieser in seiner
ursprünglichen Form erhaltene Bau (im Jahre 1077 ein
geweiht) ist mit Recht in die Liste der Nationaldenkmäler
eingereiht worden. Stifter des Baues war ein gewisser
Berardus und der Architekt Nicolaus stellt sich in
einer Inschrift auf dem rechten Türpfosten im Atrium vor.
Im Tympanon der Türe, die vom Atrium in die Kirche
führt, befand sich ein wohlerhaltenes Madonnen-Fresko des
14. Jahrhunderts. Das Innere zeigt eine sehr einfache drei-
schiffige wuchtig gedrungene Pfeilerbasilika mit Archivolten
und offenem Dachstuhl. Küustlerisch wertvoll sind der
Ambon, die Ikonostasis und das Ziborium über dem Altar,
die eine zeitlich und stilistisch geschlossene Gruppe bilden.
Und die Inschriften an der Brüstung der Kanzeltreppe
erhärten dies vollauf. Darnach waren die Urheber des
Ambons die Bildhauer Nikodemus und Robertus. Von
dem gleichen Nikodemus stammt nun auch laut Inschrift
der vollkommen ähnliche Ambon von Santa Maria del Lago
in Moscufo (Provinz Chieti), an dem wir das Datum
1158 finden. Robertus seinerseits nennt sich am Ziborium
von S. Clemente al Voiano bei Guardia (Provinz Teramo),
das sich auf den ersten Blick als Werk der gleichen Hand,
die das Ziborium von S. Maria in Valle Porclaneta schuf,
zu erkennen gibt. Die Übereinstimmung anderseits zwischen
Ziborium und Ikonostasis der letztem Kirche ist in die
Augen fallend. Die plastischen Teile dieser Denkmäler sind
in Terrakotta ausgetührt und im Figürlichen (Adam nach
dem Fall, Jonas und der Walfisch an der Kanzel) plump
und unbeholfen, dagegen ist das von phantastischen Un
getümen belebte Pflanzenwerk in den Zwickeln der Bogen
(hier taucht inschriftlich beglaubigt bereits in der Mitte
des 12. Jahrhunderts der runde Kleeblattbogen auf) und
an den Kapitellen äußerst schwungvoll behandelt. Der
Kanzel (ein würfelförmiger Kasten auf vier säulengetragenen
Bogen) fehlt ein Teil der Terrakottabekleidung; diese läßt
sich aber nach dem vollständig konservierten Exemplar von
Moscufo leicht rekonstruieren. An zwei Seiten befand sich
eine Ausbuchtung, geziert mit den Figuren eines Engels
und eines Adlers, welche die Lesepulte stützen. Während
die Chorschranken mit figurierten Tonplatten bedeckt sind,
überwuchern dekorative Holzschnitzereien den Architrav
der Ikonostasis und selbst die Schäfte der vier schlanken
Säulen, die ihn tragen. Auf vier kannellierten Säulen erheben
sich die Kleeblattbogen des Ziboriums, dessen achteckiger
Oberbau sich dreifach abstuft. .Dieser bedeutsame Bau ist
beinahe unversehrt geblieben; einige Terrakottaplatten sind
geb.oehen und die Mauern haben Risse, die jedoch leicht
auszubessern sind.
In Scurcola, zwischen Tagliacozzo und Avezzano,
sieht man noch verschiedene gotische Kirchenportale, aber
sie gehen wie Theatertüren aufs Leere: hinter der Kulisse
nichts als das Chaos von Trümmerhaufen. Aus einem dieser
Schutthaufen hat man, wunderbarerweise unversehrt, das
wertvollste Kunstwerk des Ortes, die Holzstatue der Madonna
della Vittoria hervorgezogen. Diese Madonna hat eine
interessante Geschichte. Sie befand sich ursprünglich in der
Klosterkirche von Santa Maria della Vittoria, die Karl von
Anjou in den Jahren 1272—82 am Ufer des Salto errichtete,
auf der Stätte, wo er am 26. August 1268 den jugendlichen
Konradin besiegt hatte. Als das Erdbeben von 1627 diese
Abtei in Trümmer warf, wurde die Statue gerade so wie
h.-ute gerettet und genoß seither eine abergläubische Ver
ehrung. Dieses Madonnenbild wird von sämtlichen Autoren
und auch vom Baedeker als byzantinisch bezeichnet, was
grundfalsch ist; es handelt sich vielmehr um ein klassisches
Werk nordfranzösischcr Skulptur aus der Blütezeit des
13. Jahrhunderts.
Die Statue ist offenbar die von . dem Anjou gestiftete
und wurde wohl von ihm aus Frankreich mitgebracht.
(Fortsetzung folgt in der nächsten Nummer.)