Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde.
Herausgeber: Norbert Ehrlich.
8. Jahrgang. Wien, 1. Februar 1916. Nr. 3.
Die Kunstgeschichte ohne Namen.
Von August Strobel (Prag).
Heinrich Wölfflin hat ein neues Buch geschrieben.
Wer je die lichtzündende, horizontäufhellende Wirkung
der volkstümlich gewordenen beiden Bücher
Wölfflins über „die klassische Kunst“ und ..Dürer“
an sich erfahren hat, versteht, daß die Kunde von diesem
neuen Werk ein Ereignis für die ganze gebildete Laien
welt bederrtet. Nun bietet sich freilich das neue Buch
(„Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der
Stilentwicklung in der neueren Kunst“, Verlag Bruck
mann, München*), äußerlich in gelehrterem Gewand
als seine Vorgänger. Scheinbar auf eine rein begriffliche
Untersuchung der Darstellur.gsformen innerhalb der
Kunst vom 16. bis 18. Jahrhundert hinauslauf eh d
landet es jedoch bei einem zugleich enger und höher
gesteckten Ziele. Das engere ist, im selben Geiste, wie
die beiden ersten Bücher es für die „klassische“ italie
nische und deutsche Kunst taten, nun auch für die
„barocke“ Kunst des 17. Jahrhunderts eine Einführung
in die „Sehbedirigurgen“ zu geben, unter welchen diese
Kunst einst entstanden ist und nun genossen werden
will. Das höhere Ziel aber will nicht weniger als die
ganze Kunstgeschichtsschreiburg auf eine andere Grund
lage stellen, der bisher ungebührlich überwiegenden
Tatsachenforschurg in einer „Kunstgeschichte ohne
Namen“ Schritt für. Schritt die Entstehung des
modernen Sehens verfolgen.
Wölfflin leugnet nicht die Notwendigkeit, Kunst
werke als „Ausdruck“ eines bestimmten Temperaments,
gekennzeichnet durch die Zugehörigkeit zu einer
künstlerischen Persönlichkeit, einer Schule einem
Volke oder einer ganzen Rasse aufzufassen und lehnt
die Betrachtungsart nicht ab, welche lediglich der
Qualität — schön oder nicht schön — ihr Augenmerk
zugewendet. Aber er findet in der Stilgeschichte noch
eine untere Schicht von Begriffen, die sich allgemeiner
anwenden lassen als jene, eben genannten, und die
sich ganz allgemein auf die Darstellungsart als solche be
ziehen. Jeder Künstler findet gewisse „optische Mög
lichkeiten“ vor, an die er gebunden ist, deren er sich
zum Ausdruck welcher persönlichen Stimmung immer
bedienen muß, und die „optischen Schichten“ aufzu
decken bezeichnet Wölfflin in seinem neuen Buche als
die elementarste Aufgabe der Kunstgesehichtsschrei-
*) Einen kurzen Hinweis auf das interessante Buch,
brachten wir bereits in Nr. Z.
bring. Man wird gleich verstehen, wie das gemeint
ist, wenn man die Anwendung der allgemeinen For
derung auf das besondere Thema des Buches kennen
lernt. Wölfflin will die Geschichte der neueren abend
ländischen Kunst nicht mehr auf das viel mißbrauchte
Schema einer einfachen Kurve mit Anstieg, Höhe
(16. Jahrhundert) und Abstieg (17. Jahrhundert)
gebracht sehen; die Entwicklung hat vielmehr zwei
Höhepunkte. Und er faßt diese Höhepunkte (Klassisch
—Barock) in fünf Kategorien von Begriffen, die ihm
letzten Endes nur fünf verschiedene Ansichten ein-
und derselben Sache bedeuten, in den großen Gegensatz
zwischen linear und malerisch, flächenhaft und tiefen
haft, geschlossene und offene Form, Vielheitlichkeit
und Einheitlichkeit, absolute und relative Klarheit.
Die Nachweisbarkeit dieses Gegensatzes jenseits von
allen sonstigen Unterscheidungen der Temperamente,
der Volks- und Rasseneigenart und des Zeitstils bildet
den Inhalt des neuen Werkes. Es zeigt und überzeugt,
- ich gebe ein Beispiel für hundert daß Gegenpole
wie Bernin i und Ter horch noch Gemeinsamkeiten
besitzen, die sie als Verwandte erscheinen lassen gegen
über jedem Künstler des vorangehenden Jahrhunderts.
Vielleicht wäre jedem andern solche Absicht trocken
und allzu begrifflich geraten; wer Wölfflins Art kennt,
seine seltene Kunst, mit dem sparsamsten Wortgebrauch
immer das Wesentliche eines Bildinhalts anschaulich
zu machen und kaum in Worten ausdrückbar scheinende
Erlebnisse des Auges nicht nur begrifflich, sondern auch
sprachlich kristallklar zu fassen, wird der Versicherung
glauben, daß das Lesen dieses neuen Buches zu den
reizvollsten Genüssen gehört, die ein seelenweitendes,
einsichtvertiefendes, gefühlbereicherndes Buch zu
schenken vermag. Mit überzeugender Reinheit stellt
sich dem Leser die Kunst des 17. Jahrhunderts in allen
ihren Äußerungen als der Gegenpol des 16. Jahrhunderts
dar, hier das Vollkommene und Vollendete, dort das
Bewegte und Werdende, hier das Begrenzte und Faß
bare, dort das Unbegrenzte und Kolossale, hier das Sein,
dort das Geschehen; mit einem Wort: sie stellt Bewe
gung dar im Sinne des wirklichen „Sichveränderns“.
Klingt hier nicht Bekanntes an? Ist.das nicht Definition
des Impressionismus unserer Zeit ?
Und wirklich meint Wölfflin solche auch in un
sere moderne Kunst hinüberweisende Ausblicke mit
seinem Buch zu öffnen. Denn jene psychologisch be-