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Internationale Sammler- Zeitung
Nr. 24
Evangelien verlesen und ausgedeutet, gemeinsame
Gebete gesprochen und suspendierende Gesänge ge
übt. An diese schloß sich dann das „Licbesmahl ,
das ganz nach der Art des letzten Abendmahles mit
Christus gefeiei t wurde, und zwar mit der allgemeinen
Kommunion unter beiderlei Gestalt, Brot und Wein,
wobei der Henkelkelch in Verwendung kam.
Daß jedoch zu einer Zeit, wo die Laienkommunion
noch unter der Doppelgestalt in Übung war, für den
pontifiziei enden Priester auch Einzelkelche in Ge
brauch waren, erweist der berühmte „Tassilokelch“
im Stifte Kremsmünster in Oberösterreich. Da
dieses 777 von dem Bayernherzog Tassilo III. gestiftet
wurde, so dürfte auch der Kelch dieser Zeit entstammen
und wahrscheinlich als das Werk eines Salzburger
Meisters angesprochen werden. Die Form knüpfte voll
ständig an die des schon erwähnten Römerglases an,
ist aber ziemlich plump, die Cupa ist Kupfer, gegossen,
der etwas kurze, breit ausladende Fuß in gleichem
Metalle getrieben, der Nodus (Knauf des Fußes),
springt kräftig aus, ist aber von der Cupa nur durch
eine Perlenreihe getrennt, respektive abgegrenzt. Die
Technik ist Gold- und Silberniello, der Dekor vor
wiegend Bandornament, Ovale umrahmend, in denen
an der Cupa Christus und die Evangelisten, andere
Heilige in Gravuren als Brustbilder gegeben sind.
Das ganze Kunstwerk ist von byzantinischen Ein
flüssen fast völlig befreit.
Vor kurzem ging durch die Fachpresse die Meldung,
daß in Antiochia im Jahre 1910 beim Graben eines
Brunnens ein großer Silberkelch aus dem Beginn der
christlichen Zeitrechnung gefunden worden sei. Gustav
A. Eisen erzählt in der „Kunstchronik“ folgendes
darüber: „...hier haben wir uns hauptsächlich mit
dem großen Kelch von 19 cm Höhe und weitestem
Durchmesser von 18 cm zu beschäftigen, der von
einem silbergetriebenen Dekorationsmantel umgeben
ist und Darstellungen auf weist, die als die ältesten
Christus- und Aposteldarstellungen anzusehen sind.
Über die Form, Technik und Dekoration im allgemeinen
darf der ungefähr gleichzeitige Silberschatz von Bos-
coreale verglichen werden. Der innere Kelch ist wahr
scheinlich aus einer dicken Silberplatte herausge
hämmert, dessen oberes Ende so umgedreht worden
ist, daß es einen ungefähr 1 cm breiten Kragen bildet.
Das Dekorationswerk wurde dann auf den inneren
Kelch aufgelötet. Das Ornament besteht aus einem
komplizierten Rankenwerk von Weintrauben, deren
Reben 12 Rahmen bilden, in denen jeweils eine sitzende
Person dargestellt ist, deren Kopf von außerordent
licher Kunstfertigkeit zeigt. Diese Köpfe zeigen nämlich
Individualitäten, die nach Eisens Darlegungen nicht
auf bloßem Zufall beruhen können.“
Der Verfasser des von fünf Abbildungen begleiteten
Aufsatzes datiert den inneren Kelch auf den Anfang
der christlichen Zeitrechnung, die aufgesetzten Orna
mente in das dritte Viertel des ersten Jahrhunderts
nach Christi Geburt. An der Echtheit des Kelches
wurden nirgends Zweifel erhoben. Gewiß sei der Kelch
eine geheiligte Reliquie gewesen und der Skulpturen--
mantel dazugefügt, um ihn erhalten und schmücken
zu helfen. Wir haben in diesem frühesten Kelch auf
jeden Fall eines der ältesten christlichen Kultgefäße
vor uns.
Als von der Kirche für die Laienkommunion die
Verabreichung des Abendmahles unter beiden Ge
stalten aufgehoben wurde, blieb der Henkelkelch nur
noch als Hostienbehälter für die Massenkommunion
in Pfarr- und Wahlfahrtskirchen im Gebrauch, wo er
dem amtierenden Geistlichen vom Diakon nachge
tragen wurde. Derlei Gefäße finden sich in einigen |
kirchlichen Schatzkammern. Ein besonders schönes
Exemplar aus dem 12. Jahrhundert steht im Kloster
Willen bei Innsbruck.
Die Calixtiner (Kelclicrer), wie die Hauptstreiter
um- das Laienabendmahl, die Hussiten, genannt
wurden, haben ihn sozusagen erst ganz für den Pro
testantismus eiobeit. Mit der Einfühlung der Kleriker
messe ging Hand in Hand nicht nur die Mehrung der
Welt- unrl Klosterkleriker, sondern auch die der Kult
geräte für deren persönlichen Gebrauch, unter denen
natürlich der Kelch einen besonders bevorzugten Platz
einnahm.
Schon in der romanischen Stilpei iode ist er ein
ebenso willkommenes, wie begehrtes Geschenk, das
sowohl dem Primizianten zu seinem ersten Meßopfer
als auch dem jubilierenden Priester, dem hohen Kirchen-
piälaten, den Kloster- und Domkirchen usw. als ein
Zeichen der Verehrung gespendet wuide.
Die byzantinische und romanische Stilperiode hatte
den Kelch zu einem Piunkstück allerersten Ranges
ausgestaltet, mit dem sich nur noch die Monstranze
und der Reliquienschrein messen konnten. War der
Kelch nicht selbst schon aus purem Edelmetalle, so
wurde dies duich die Anbringung von Edel- und
Halbedelsteinen, transluzidem- oder Email cloisonc,
Niello oder Tauschierarbeit auszuglcichen gesucht.
Leider ist uns von diesen meist mit barbarischer Pracht
ausgestalteten Objekten wen’g mehr erhalten geblieben.
Schweden und Franzosen, Spanier und Panduren
haben gründlich drin aufgeräumt, ganz zu schweigen
von den Verlusten, die auch in derartigen Kleinkunst
gegenständen der gegenwärtige Weltkrieg gebracht
haben mag.
Die kostspieligen Prachtexemplare der voraus
gegangenen Stilperioden wollte sich die Gotik nicht
mehr leisten. Fürs erste-arbeitete die Gotik selbst in
den zierenden Beigaben der Produkte ihrer Klein
kunst fast nur mit geometrischen Motiven, Maßwerk
oder mit Blätterfriesen und dergleichen.
Der Goldschmied und Metallarbeiter wurde zum
Architekten und alles wurde kantig, zackig bis herab
zum Nodus des Kelches. War dieser nicht zu allem
Überfluß schon mit Fialen besetzt, so war er minde
stens mit Facetten geschmückt; zeigte doch schon der
Standfuß die Formen des Vier-, Fünf- und Sechspasses,
aus deren Zusammenstößen häufig strahlenförmige
Spitzen hervorragten. Die Flächen des Fußes wurden
mit Gravuren, Filigran, der Nodus mit Perlen und
Edelsteinen verziert, der untere Teil der Cupa mit einem
Blatt- und Rankenornament oder mit Maßwerk. Dem
Goldschmied aber erwuchs in den Kelchen und dem
sonstigen metallenen Kultusgeräte im Gürtler ein bis
heute ebenbürtiger Konkurrent.
Mit dem Auftreten der kirchlichen Reformation
trat für die Produktion der sakralen Kleinkunst eine
Stagnation ein. Die Renaissance suchte ihre Haupt
aufgabe vom Anfang an mehr in der monumentalen
wie in der profanen Richtung. So sehr sich aber Monu
mentalbauten auch im Detail an die Antike lehnen,
der Einfall, einen klassischen Tem.pelbau als christ
liche Kirche hinzustellen, blieb doch erst dem 19. Jahr
hundert Vorbehalten. (St. Madelaine in Paris.)
Die Protestanten begnügten sich mit den ihnen als
Erbe zugefallenen Schätzen der katholischen Kirchen,
entnahmen jenen das für sie Brauchbare und veräußerten
das übrige. Hatte demzufolge die einschlägige Klein
kunst auf dem Gebiete mit starkem Ausfall zu rechnen
— sie wußte sich zu helfen, sie erfand an Stelle des
sakralen Kelches den profanen, der Tafelrunde ge
widmeten „Pokal“.