MAK
Seite 98 
Internationale SainmJer-Zeitung 
Nr. 13 
aber nur auszuüben, indem wir die Dinge nach Qualität 
und Quantität, nach Grad und Maß, nach Form und 
Inhalt, Wesen und Erscheinung usw. auf einander 
beziehen und danach in Gedanken gleichsam zusammen 
stellen. Niemand vermag die Eigenschaft eines Dinges 
von der Größe eines anderen, sondern nur Qualität von 
Qualität, Größe von Größe, zu unterscheiden. Jeder — 
auch schon das Kind bei der ersten Bildung seiner Vor 
stellungen — verfährt so ganz von selbst, unbewußt 
und unwillkürlich, ohne zu wissen, was Qualität und 
Quantität ist, ja, ohne die Namen dieser Begriffe zu 
kennen. Folglich müssen diese formal-allgemeinen Be 
griffe — es sind die sogenannten logischen Kategorien — 
dem Geiste zwar nicht als Begriffe, wohl aber als leitende 
Normen und Kriterien seiner unterscheidenden, ver 
gleichenden, urteilenden Tätigkeit an- oder eingeboren 
sein. 
Ähnlich, glauben wir, verhält es sich mit den Ideen 
des Guten, Schöner und Wahren. Auch sie sind dem 
menschlichen Geiste nicht als Ideen, sondern als 
leitende Normen und Kriterien, der sein eigenes Wollen 
und Tun, Anschaven und Erkennen unterscheidenden, 
vergleichenden, beurteilenden Tätigkeit eingeboren. 
Eben darum gibt sich das Gute, Schöne und Wahre 
unmittelbar im Gefühle kund, im Gefühl des Wohl 
gefallens, im Gewissen, im Schönheitsgefühle, im 
Wahrheitssinne. Denn indem wir unwillkürlich und 
unbewußt eine Erscheinung an die innere Norm des 
Guten und Schönen halten und ihr gemäß von einer 
anderen unterscheiden, berührt uns das der Idee ent 
sprechende wie ein unserem Wesen Harmonisches, Ver 
wandtes, und bewirkt eine Erhebung der Seele, in der 
sie ihr Sein und Wesen durch den Gegenstand gleichsam 
bestärkt und gehoben fühlt, also ein Gefühl des An 
genehmen, das Gegenteil ein Gefühl des Unangenehmen. 
Äuf dieses Gefühl stützt sich der Verstand, überträgt 
es — nach dem Gesetze der Kausalität —- auf die Gegen 
stände, und fällt das Urteil: dieses ist wohltuend, ge 
fällig, gut und schön — jenes übeltuend, mißgefällig, 
böse und häßlich. Das gleiche Gefühl ergreift aber auch 
die künstlerisch-produktive Phantasie und sucht ihm — 
immer instinktiv geleitet von der Idee der Schönheit 
als beständiger Norm und zugleich sich anlehnend an 
die gegebenen Erscheinungen als den zu verarbeitenden 
Stoff — Form und Gestalt zu geben. So bildet sich all 
mählich im Geiste des Künstlers das Ideal, jene „ge 
wisse Idee", nach der Raphael seine Schöpfungen ent 
warf. Wie hell oder dunkel es ihm vorschweben möge, 
immer begleitet es ihn, auf allen seinen Wegen und 
leitet all sein Tun und Lassen; und nur soweit er ihm 
Genüge getan, wird sein Werk ihn selbst und die Welt 
befriedigen.Aber dieses Ideal ist nach Inhalt und Form, 
wie nach Klarheit und Bestimmtheit, zuletzt immer 
bedingt durch die Schärfe, Genauigkeit und Richtigkeit, 
mit welcher der Künstlergeist die Erscheinungen ge 
mäß der normativen Idee des Schönen ursprünglich 
unterscheidet. Denn damit entsteht erst das Gefühl des 
Wohlgefallens, das Schönheitsgefühl, aus dem sodann 
das Ideal sich hervorbildet. Das Schönheitsgefühl, weil 
eine Erhebung der innersten Seele des Künstlers, wird 
zwar nach der ursprünglichen Eigentümlichkeit seines 
Geistes und Wesens sich anpassen und demgemäß das 
Ideal und damit alle seine Werke das Gepräge seiner 
Persönlichkeit, seines subjektiven Geistes und Charak 
ters erhalten, das heißt jeder Künstler wird einen eigen 
tümlichen Stil haben. Aber wenn bereits in jene ur 
sprünglichen Akte der unterscheidenden Tätigkeit die 
persönlichen Neigungen und Gelüste, Meinungen und 
Vorurteile, Eigensinn und Selbstgefälligkeit usw., kurz 
die Subjektivität des Künstlers, sich vermischen und 
das Resultat verfälschen, so wird das Schönheitsgefühl 
und damit das Ideal nicht nur nach der Subjektivität 
des Künstlers'sich anpassen, sondern in seinem inner 
sten Kerne — substantiell — von ihr bestimmt, und 
damit unrein, unwahr, weil der allgemeinen objektiven 
Idee desSchönen widersprechend, erscheinen. Wie daher 
der Irrtum in der Erkenntnis und Wissenschaft da 
durch entsteht, daß die unterscheidende Tätigkeit 
nachlässig und oberflächlich ausgeübt wird oder in die 
Auffassung der Unterschiede — Bestimmtheiten — 
der Dinge die persönlichen Sympathien oder Anti 
pathien, vorgefaßte Ansichten und Tendenzen, unbe 
gründende Prinzipien oder gar die Einbildungskraft 
und Denkwillkür sich einmischen, so entsteht in der 
Kunst die Manier, wenn bei der Auffassung des Schönen, 
der Bildung des Ideals gemäß der Norm der Idee, etwas 
Ähnliches geschieht. Die Manier verhält sich daher zum 
Stil wie der Irrtum zur Wahrheit. Aber wie der Irrtum 
immer nur an der Wahrheit, nur die Verkehrung oder 
die Verdunkelung der Wahrheit ist, so ist die Manier 
nicht die Negative der Schönheit, sondern nur deren 
Verkehrung oder Verdunkelung. Auch darf sie nicht 
verwechselt werden mit der Neigung zur Ostentation, 
mit der Absichtlichkeit und Effekthascherei und allen 
jenen Mitteln, die so mancher Künstler anwendet, um 
sich selbst und seine Meisterschaft geltend zu machen; 
sic verschmilzt nur leicht mit diesen Bestrebungen und 
umgekehrt, diese Bestrebungen führen leicht zur Manier. 
Aus unserer Begriffsbestimmung erklärt es sich 
von selbst, wie nicht bloß einzelne Künstler, sondern 
ganze Zeitalter, mißleitet durch falsche Grundsätze, 
durch Neigung zu Luxus, Genußsucht und Frivolität, 
zu Unsittlichkeit und Irreligiösität^usw. in Manier 
verfallen können, wie die moderne Kunst zur Zeit 
des Zopfstiles. Es ergibt sich aber auch, daß nicht 
bloß der einzelne Künstler, sondern auch jede Periode 
der Kunstgeschichte und jede kunstbegabte Nation 
ihren besonderen Stil haben und entwickeln wird. 
Denn wie jeder Künstler — und je größer er ist, desto 
entschiedener — eine ursprüngliche Natur bestimmt - 
heit, also Originalität in sich trägt, die zu seinem 
künstlerischen Charakter, zu seinem Stil sich aus 
bildet, so hat jede Nation ihren Nationalcharakter, 
jede Zeit ihren Zeitgeist. Der Inbegriff der besonderen, 
stets wiederkehrenden Eigentümlichkeiten in der 
künstlerischen Auffassung, Behandlung und fiDar- 
stellung des verschiedenartigsten Stoffes, in denen 
der Geist des Volkes und Zeitalters sich abspiegelt, 
bildet daher den Stil der Nation, den Stil der Zeit — 
den griechischen, römischen, italienischen, deutschen 
Stil, den altchristlichen, romanischen, gotischen, 
Renaissance-Stil. Dasselbe gilt natürlich von einzelnen 
Zweigen des gleichen Volksstammes, von einzelnen 
Städten und Kunstschulen, und man unterscheidet 
daher einen schwäbischen, westphälischen, einen 
Nürnberger, Kölner, Münchener Stil; jede Schule 
ist nur insoferne und so lange eine besondere Schule, 
als sie einen eigenen Stil besitzt und sich bewahrt. 
Mit der dai gelegten Grundbedeutung des Wortes 
hangt endlich auch der Sinn der Ausdrücke stilgemäß, 
stilistisch, stilisiert zusammen, obwohl sie auf den 
ersten Blick einer ganz anderen Sphäre anzugehören 
scheinen. Wie jeder Künstler, jedes Volk, jede Zeit, 
so hat auch jede einzelne der verschiedenen Künste 
ihren eigentümlichen Geist und Charakter, ihr be 
sonderes Wesen, das zum allgemeinen Wesen der 
Kunst gerade so wie der Volks- und Zeitgeist zum 
allgemeinen^Geiste der Menschheit, wie die Art zur 
Gattung sich verhält und aus dem gewisse technische, 
formelle wie materielle Gesetze und Regeln für die
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.