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Internationale SainmJer-Zeitung
Nr. 13
aber nur auszuüben, indem wir die Dinge nach Qualität
und Quantität, nach Grad und Maß, nach Form und
Inhalt, Wesen und Erscheinung usw. auf einander
beziehen und danach in Gedanken gleichsam zusammen
stellen. Niemand vermag die Eigenschaft eines Dinges
von der Größe eines anderen, sondern nur Qualität von
Qualität, Größe von Größe, zu unterscheiden. Jeder —
auch schon das Kind bei der ersten Bildung seiner Vor
stellungen — verfährt so ganz von selbst, unbewußt
und unwillkürlich, ohne zu wissen, was Qualität und
Quantität ist, ja, ohne die Namen dieser Begriffe zu
kennen. Folglich müssen diese formal-allgemeinen Be
griffe — es sind die sogenannten logischen Kategorien —
dem Geiste zwar nicht als Begriffe, wohl aber als leitende
Normen und Kriterien seiner unterscheidenden, ver
gleichenden, urteilenden Tätigkeit an- oder eingeboren
sein.
Ähnlich, glauben wir, verhält es sich mit den Ideen
des Guten, Schöner und Wahren. Auch sie sind dem
menschlichen Geiste nicht als Ideen, sondern als
leitende Normen und Kriterien, der sein eigenes Wollen
und Tun, Anschaven und Erkennen unterscheidenden,
vergleichenden, beurteilenden Tätigkeit eingeboren.
Eben darum gibt sich das Gute, Schöne und Wahre
unmittelbar im Gefühle kund, im Gefühl des Wohl
gefallens, im Gewissen, im Schönheitsgefühle, im
Wahrheitssinne. Denn indem wir unwillkürlich und
unbewußt eine Erscheinung an die innere Norm des
Guten und Schönen halten und ihr gemäß von einer
anderen unterscheiden, berührt uns das der Idee ent
sprechende wie ein unserem Wesen Harmonisches, Ver
wandtes, und bewirkt eine Erhebung der Seele, in der
sie ihr Sein und Wesen durch den Gegenstand gleichsam
bestärkt und gehoben fühlt, also ein Gefühl des An
genehmen, das Gegenteil ein Gefühl des Unangenehmen.
Äuf dieses Gefühl stützt sich der Verstand, überträgt
es — nach dem Gesetze der Kausalität —- auf die Gegen
stände, und fällt das Urteil: dieses ist wohltuend, ge
fällig, gut und schön — jenes übeltuend, mißgefällig,
böse und häßlich. Das gleiche Gefühl ergreift aber auch
die künstlerisch-produktive Phantasie und sucht ihm —
immer instinktiv geleitet von der Idee der Schönheit
als beständiger Norm und zugleich sich anlehnend an
die gegebenen Erscheinungen als den zu verarbeitenden
Stoff — Form und Gestalt zu geben. So bildet sich all
mählich im Geiste des Künstlers das Ideal, jene „ge
wisse Idee", nach der Raphael seine Schöpfungen ent
warf. Wie hell oder dunkel es ihm vorschweben möge,
immer begleitet es ihn, auf allen seinen Wegen und
leitet all sein Tun und Lassen; und nur soweit er ihm
Genüge getan, wird sein Werk ihn selbst und die Welt
befriedigen.Aber dieses Ideal ist nach Inhalt und Form,
wie nach Klarheit und Bestimmtheit, zuletzt immer
bedingt durch die Schärfe, Genauigkeit und Richtigkeit,
mit welcher der Künstlergeist die Erscheinungen ge
mäß der normativen Idee des Schönen ursprünglich
unterscheidet. Denn damit entsteht erst das Gefühl des
Wohlgefallens, das Schönheitsgefühl, aus dem sodann
das Ideal sich hervorbildet. Das Schönheitsgefühl, weil
eine Erhebung der innersten Seele des Künstlers, wird
zwar nach der ursprünglichen Eigentümlichkeit seines
Geistes und Wesens sich anpassen und demgemäß das
Ideal und damit alle seine Werke das Gepräge seiner
Persönlichkeit, seines subjektiven Geistes und Charak
ters erhalten, das heißt jeder Künstler wird einen eigen
tümlichen Stil haben. Aber wenn bereits in jene ur
sprünglichen Akte der unterscheidenden Tätigkeit die
persönlichen Neigungen und Gelüste, Meinungen und
Vorurteile, Eigensinn und Selbstgefälligkeit usw., kurz
die Subjektivität des Künstlers, sich vermischen und
das Resultat verfälschen, so wird das Schönheitsgefühl
und damit das Ideal nicht nur nach der Subjektivität
des Künstlers'sich anpassen, sondern in seinem inner
sten Kerne — substantiell — von ihr bestimmt, und
damit unrein, unwahr, weil der allgemeinen objektiven
Idee desSchönen widersprechend, erscheinen. Wie daher
der Irrtum in der Erkenntnis und Wissenschaft da
durch entsteht, daß die unterscheidende Tätigkeit
nachlässig und oberflächlich ausgeübt wird oder in die
Auffassung der Unterschiede — Bestimmtheiten —
der Dinge die persönlichen Sympathien oder Anti
pathien, vorgefaßte Ansichten und Tendenzen, unbe
gründende Prinzipien oder gar die Einbildungskraft
und Denkwillkür sich einmischen, so entsteht in der
Kunst die Manier, wenn bei der Auffassung des Schönen,
der Bildung des Ideals gemäß der Norm der Idee, etwas
Ähnliches geschieht. Die Manier verhält sich daher zum
Stil wie der Irrtum zur Wahrheit. Aber wie der Irrtum
immer nur an der Wahrheit, nur die Verkehrung oder
die Verdunkelung der Wahrheit ist, so ist die Manier
nicht die Negative der Schönheit, sondern nur deren
Verkehrung oder Verdunkelung. Auch darf sie nicht
verwechselt werden mit der Neigung zur Ostentation,
mit der Absichtlichkeit und Effekthascherei und allen
jenen Mitteln, die so mancher Künstler anwendet, um
sich selbst und seine Meisterschaft geltend zu machen;
sic verschmilzt nur leicht mit diesen Bestrebungen und
umgekehrt, diese Bestrebungen führen leicht zur Manier.
Aus unserer Begriffsbestimmung erklärt es sich
von selbst, wie nicht bloß einzelne Künstler, sondern
ganze Zeitalter, mißleitet durch falsche Grundsätze,
durch Neigung zu Luxus, Genußsucht und Frivolität,
zu Unsittlichkeit und Irreligiösität^usw. in Manier
verfallen können, wie die moderne Kunst zur Zeit
des Zopfstiles. Es ergibt sich aber auch, daß nicht
bloß der einzelne Künstler, sondern auch jede Periode
der Kunstgeschichte und jede kunstbegabte Nation
ihren besonderen Stil haben und entwickeln wird.
Denn wie jeder Künstler — und je größer er ist, desto
entschiedener — eine ursprüngliche Natur bestimmt -
heit, also Originalität in sich trägt, die zu seinem
künstlerischen Charakter, zu seinem Stil sich aus
bildet, so hat jede Nation ihren Nationalcharakter,
jede Zeit ihren Zeitgeist. Der Inbegriff der besonderen,
stets wiederkehrenden Eigentümlichkeiten in der
künstlerischen Auffassung, Behandlung und fiDar-
stellung des verschiedenartigsten Stoffes, in denen
der Geist des Volkes und Zeitalters sich abspiegelt,
bildet daher den Stil der Nation, den Stil der Zeit —
den griechischen, römischen, italienischen, deutschen
Stil, den altchristlichen, romanischen, gotischen,
Renaissance-Stil. Dasselbe gilt natürlich von einzelnen
Zweigen des gleichen Volksstammes, von einzelnen
Städten und Kunstschulen, und man unterscheidet
daher einen schwäbischen, westphälischen, einen
Nürnberger, Kölner, Münchener Stil; jede Schule
ist nur insoferne und so lange eine besondere Schule,
als sie einen eigenen Stil besitzt und sich bewahrt.
Mit der dai gelegten Grundbedeutung des Wortes
hangt endlich auch der Sinn der Ausdrücke stilgemäß,
stilistisch, stilisiert zusammen, obwohl sie auf den
ersten Blick einer ganz anderen Sphäre anzugehören
scheinen. Wie jeder Künstler, jedes Volk, jede Zeit,
so hat auch jede einzelne der verschiedenen Künste
ihren eigentümlichen Geist und Charakter, ihr be
sonderes Wesen, das zum allgemeinen Wesen der
Kunst gerade so wie der Volks- und Zeitgeist zum
allgemeinen^Geiste der Menschheit, wie die Art zur
Gattung sich verhält und aus dem gewisse technische,
formelle wie materielle Gesetze und Regeln für die