Internationale
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Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde.
Herausgeber: Norbert Ehrlich.
11. Jahrgang. Wien, 1. Oktober 1919. Nr. 19.
Ein Wandteppich von Jan Raes.
Vor uns liegt ein interessantes Werkchen: eine.
Monographie über einen Wandteppich.*) Man kann
sich denken, daß es sich da um kein gewöhnliches Stück
handelt, der Teppich, den ein Fachgelehrter, wie.
HofrätProf. E. Kümschin Dresden, einer wissenschaft
lichen Prüfung unterzog und beschreibt, ist eine Arbeit
von Jan Raes dem 4ltercn und stammt aus dem
Jahre 1619.
Der Teppich bildet anscheinend das Mittelstück
einer größeren Darstellung, einer Allegorie der
Geometrie, und gehört höchstwahrscheinlich einer
Folge von sieben oder acht Teppichen an, Darstellungen
der freien Künste^ (artes liberales) oder Wissenschaften,
die im 16. und 17. Jahrhundert häufig Gegenstand
bildlicher Behandlung waren, wozu manchmal noch als
achte Darstellung ein Gesamtbild der sieben Künste
trat. Die sieben freien Künste waren: Grammatik,
Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie, Dialektik
und Rhetorik. Die ersten drei wurden als Trivium in
den Elementar-(Trivial-)Schulcn gelehrt, die vier
anderen als Quadrivium in den höheren Lehranstalten.
An den Universitäten bildeten alle zusammen die
philosophische Fakultät (facultas artium liberalium).
Die Hauptfigur der Darstellung in griechisch antiki
sierendem Charakter ist die des Pythagoras als Lehrer.
Er trägt unter Benutzung eines Buches vor, welches
auf der rechten Seite die Konstruktion des nach ihm
benannten pythagoräischen Lehrsatzes darbietet. Der
Kopf des Pythagoras zeigt in allen Einzelheiten
eine starke Anlehnung an den Moses des Michelangelo;
der Hauptfigur am Grabmal des Papstes Pius II.
in Rom, aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Zu Füßen
des'Pythagoras sitzt sein Schüler Philo laus der das
erste Buch über die Geometrie veröffentlicht hat.
Er ist mit einer geometrischen Konstruktion, wohl
auch der genannten, beschäftigt, wozu er zwei ver
schieden große Zirkel benötigt. Im Hintergrund steht
ein Jüngling mit einem Reißstab; zu beiden Seiten der
Gruppe erscheinen Teile von faltigen Gewändern
weiterer, zur vollständigen Darstellung des Entwurfes
gehörigen Personen.
Der Wandteppich ist also unzweifelhaft nur das
Mittelstück zu einer größeren Darstellung. Dies kommt
* Wandteppich „Allegorie der Geomotrie“ von Jan Raes,
Brüssel 1610, im Hause Heinrich Waldes, Prag, mit
5 Tafeln, Beschrieben von Hofrat Professor E. Ku ne sc h,
Dresden. Druck der Kunstanstalt S t e n g e 1 & Co.,G. na. b. H„
Dresden.
sehr häufig vor und hat seinen Grund in dem Umstande,
daß die Wandteppiche öfters ein bestimmtes Thema in
Folgen von drei, vier, fünf, sechs und mehr Darstellungen
behandelten, die zur Ausschmückung eines Saales usw.
bestimmt waren. Die Zeichnungen dazu wurden in
einer und derselben Größe (Höhe und Breite) vom
Künstler entworfen und mußten dann, namentlich bei
wiederholter Benutzung derselben Entwürfe für ver
schiedene Räume, den Wand Verhältnissen angepaßt
werden. Für längere Wände wurden daher von den
Fabrikanten häufig die Entwürfe durch Zwischensätze
verlängert und bei kürzeren Wänden fanden nur die
Hauptdarstellungen der Entwürfe Verwendung. Die
Zeichnungen wurden daher in den Fabriken von den
ohnehin im Zeichnen sehr geübten Webern für jeden
Teppich nach der für ihn bestimmten Wand im Saale
abgeändert oder auch umgezeichnct, so daß ein und
dieselbe Zeichnung (Karton) in zwei Ausführungen
fast nie bis ins Detail dieselbe sein wird.
Der Teppich ist mit den 37 - 5 cm breiten Bordüren
3’08 m hoch und 2 - 26 m breit = 7 m 2 groß und enthält
in 10 cm 100, beziehungsweise 90 Kettenfäden.
Die Bordüren ringsum sind angesetzt, also nicht
mit dem Mittelbilde in einem Stück hergestellt. Die
aufsteigenden Teile (links und rechts) gehen vom
unteren bis zum oberen Ende des Teppichs, die beiden
Querbordüren (oben und unten) sind also zwischen
dieselben eingesetzt. Die Darstellungen darauf beziehen
sich auf ein weiteres Ergebnis der Philosophie des
Pythagoras, auf ein -System der Elemente. Er nahm
bekanntlich fünf an: außer Feuer, Wasser, Luft und
Erde noch den Äther.
Der Wandteppich trägt außerhalb der Bordüre an
der rechten oberen Ecke eine Signatur, die auf Jan
Raes hinweist. Diesen Namen trugen zwei berühmte
Teppichfabrikanten in Brüssel, von denen der erste
Jan Raes ainc 1617 bis 1634, der zweite, Jan Raes jeune,
1628bis 1637 tätig war. Nach der Inschrift im Teppich
mit 1619 ist es wahrscheinlich, daß der Entwurf gleich
zeitig mit der Ausführung entstand und daß also der
ältere Raes der Urheber ist.
Die Signatur mit 1619 ist so weit nach links und
oben gerückt, daß von dem Bilde nichts entfernt sein
kann, obwohl die Annahme nahe lag, daß Teile des
Gewebes mit Umrahmung in unregelmäßiger Weise
abgeschnitten seien, da am oberen und unteren Ende
des Bildes, an denen sich, nach dem Gewebe zu ur
teilen, Webekanten (also feste Leisten) hätten befinden