Internationale
Sammler^eifunjj
Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde.
Herausgeber: Norbert Ehrlich.
11. Jahrgang.
Wien, 15. Februar 1919.
Nr. 4.
Kunstrequisitionen in Wien.
Die öffentliche Meinung Deutschösterreichs ist
durch Kunstrequisitionen in Erregung versetzt, die in
den letzten Tagen von der italienischen Waffenstill
standskommission in Wien ausgeführt wurden.
Uber die Angelegenheit wird uns mitgeteilt: Im
Jahre 1816 wurde der Kustos der Belvederegalerie
in Wien Rosa nach Venedig geschickt, um aus einer
größeren Zahl von Bildern, die nicht in Kirchen oder
Sälen ausgestellt, sondern in Depots untergebracht
waren, eine Auswahl für die Wiener Galerie zu treffen;
er wählte mehrere Stücke aus dem Deposito della
Commenda und vier Stücke aus dem Depot der Aka
demie. Es waren meist dekorative Bilder: ,,Die drei
Könige“- und ,,Die Verkündigung Mariä“ von Paolo
Veronese sind wohl die bedeutendsten dieser Reihe.
1838 kam eine zweite größere Bildersendung aus Venedig
nach Wien. Sie wurden, da im Belvedere kein Platz
war, nicht aufgestellt, sondern im Belvederedcpot
untergebracht ; im Kunsthistorischen Museum wurden
einzelne dieser Tafeln dem Publikum in den Schau
sälen zugänglich gemacht; andere, wie zwei
Carpaccios, nach kurzem Verweilen in einem Schau
saale wieder in das Depot oder, die Sekundärgalerie
verbannt. Die Mehrzahl der Bilder aus Venedig (auch
aus Verona), nämlich 88, kamen als kaiserliche Ge
schenke in die Galerie der bildenden Künste in Wien.
In dieser Galerie, der einzigen Staatsgalerie, die früher
in Wien existiert hat, bilden mehrere der Tafeln vom
Jahre 1838 Sterne erster Größe. Da sind die ..Heilige
Geminiamis und Severus“ von Paolo Veronese zu
nennen, ein Schmuck der Orgeltüren von SanGeminiano,
einer längst niedergerissenen venezianischcnKirche.
Ferner ein Hauptwerk von Jacopo Tintoretto:
zwei Hochbilder mit je 18 Mitgliedern einer Brüder
schaft von Kaufleuten; andere' Porträts des Jacopo
Tintoretto; ein „Thronender heiliger Markus“ von
’Cima da Conegliano (die Flügel zu diesem Bilde
befinden sich in der Akademie in Venedig); eine „Mär
tyrerin“ des altertümlichen Vivavoni (das Gegenstück
hängt in der Akademie in Venedig); eine Albrecht
Dürer zugeschriebene „Grablegung“; „Mariä Ver
kündigung“ und „Tod der Mariä“ von Carpaccio;
zwei kostbare alte Altärchen mit Holzschnitzereien;
die „Heilige Veneranda mit Heiligen“ von Sebastian!;
mehrere kostbare Paolo Veroneses, insbesondere
die „Stigmatisation des heiligen Franziskus“ und die
herrliche „Himmelfahrt Mariä“; die „Marter des
heiligen Markus“, die Gianbellini begonnen und Vittore
Belliniano vollendet hat; die große „Kreuzigung“ von
Donato Veneziano dem Älteren und eine Reihe sehr
wertvoller Handschriften, Codices und von Archiv
material, zumeist aus Venezien.
Die Italiener gingen bei der Konfiskation von
folgender Erwägung aus : Die Bildertransporte Venedig-
Verona-Wien, die in den Jahren 1816 und 1838 statt
fanden. waren rechtlich unanfechtbar, da Venetien
damals zu Österreich gehörte. Es waren gewissermaßen
Leihgaben einer Provinz für die Hauptstadt. Nach
dem Artikel XVIII des Wiener Friedens Vertrages vom
3. Oktober 1866 hätten diese Objekte zurückerstattet
werden müssen; sie gehörten zu den „objets d art et de
Science, specialement affecres au territoire cede“ (Ob
jekte der Kunst und Wissenschaft, die dem geräumten
Gebiete zugehörig sind). Das Staatssekretariat des
Äußern in Wien ist natürlich anderer Meinung und hat
diese in einer Protestnote begründet, die sie an die in
Wien vertretenen Mächte und im Wege der Schutz
mächte an die Vereinigten Staaten von Nordamerika
und an die Entente gerichtet hat. In dieserNote wird aus
geführt; Es müsse zunächst in Frage gezogen werden,
auf Grund welcher Bestimmung die Waffenstillstands
kommission zur Beschlagnahme von Kunstgegenständen
sowie von Gegenständen geschichtlichen Wertes und
von Archivmaterialien berufen ist. Der Waffenstill
standsvertrag vom 3. November 1918 bestimme den
Wirkungskreis der Waffenstillstandskommission in ganz
anderer Weise und bezeichne als ihre Aufgaben die
Entgegennahme von Kriegsmaterialien und die Aus
übung von Überwachungsmaßnahmen. Abgesehen hier
von sei nach allgemeinen Grundsätzen des Völker
rechtes und nach der ausdrücklichen Vorschrift des
Artikels 56 der . Haager Landkriegsverordnung das
Eigentum der der Kunst und der Wissenschaft gewid
meten Anstalten, auch wenn sie dem Staate gehören, als
Privateigentum zu behandeln und von jeder militäri
schen Beschlagnahme befreit. Jede Beschlagnahme
von geschichtlichen Denkmälern oder von Werken der
Kunst und Wissenschaft ist untersagt und soll geahndet
werden. Anknüpfend hieran hat das Staatsamt für
Äußeres festgestellt, daß es sich im vorliegenden Falle
-teils um Eigentum des Hofes, teils um Eigentum der
bestandenen österreichisch-ungarischen Monarchie
oder des österreichischen Staates handelt, und daß
diese Eigentumsrechte durch Privaturkunden sowie
durch feierlich ratifizierte Staats vertrage. nachgewiesen
werden können. Wenn diese Rechtstitel angefochten