Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde.
Herausgeber: Norbert Ehrlich.
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17. Jahrgang. Wien, 1. Jänner 1925. (J Nr. 1.
Bedarf < Zd)ien einer Sammfung der gotiscfien SPfastifi?
Von Dr. Franz Kieslinge r, Wien.
Die letzten Jahre und Monate haben Wien eine
ungeahnteBereicherung seiner altberühmten Sammlungen
gebracht.
An der Spitze stand die Wiedergeburt der Aka
demiegalerie. Dieser spontanen Arbeit, deren Wert nur
in Wien geflissentlich totgeschwiegen wird, folgte das
Barockmuseum in erlauchtem Gewände, Proben einer
unserer kunstreichsten Zeit bietend. Die Sammlungen
der Gemäldegalerie und Sammlungen für Plastik und
Kunstgewerbe folgten. Die letzten Tage brachten uns
die Fülle des oberen Belvedere. All dies könnte wohl
nur ein unvoreingenommener Ausländer gerecht wür
digen. denn hier in Wien ist nur eine Flut von hämi
scher Kritikasterei aufgeboten worden, die keineswegs
dem Maß des Erreichten gerecht wurde.
Nicht als ob man jeder Kritik abhold sein müßte,
als vielmehr die Gewißheit, daß all die Nörgler zu
sammen nicht die Fähigkeit zur Schaffung auch nur
eines Teiles der geleisteten Arbeit hätten, verstimmt
sehr. Gewiß ist es z. B. möglich, aus einem großen
Bestände verschiedene Möglichkeiten der Auswahl zu
treffen, gewiss wird manche Einzelheit der Aufstellung,
Einrahmung etc. zu diskutieren sein, aber dies kann
doch nicht den Blick für das Ganze trüben! Es wäre
von Interesse, eine Rundfrage an alle europäisch gel
tenden Persönlichkeiten des Kunstwesens im Auslande
zu richten, um einhellig die Bedeutung des Geschaffenen
zu würdigen.
Dennoch scheint mir der Kreis des zu Erhoffen
den eine höchst empfindliche Lücke aufzuweisen. Die
Plastik des Mittelalters hat keinen Ort in Wien, an dem
sie uneingeschränkt zur Geltung käme. Nicht etwa,
als ob wir der Denkmale ermangeln würden. Es kann
jetzt nicht die Zeit einer irgend in Betracht kommen
den Erwerbstätigkeit auf diesem Gebiete sein, aber es
ist vorläufig auch gar nicht notwendig.
Ein einziges wäre erforderlich, die sinnlose Zer
streuung der Hauptwerke auf ungefähr ein halbes
Dutzend von Orten in Wien zu beheben. Allerdings
scheiterte auch nur die Möglichkeit dieser Idee vor
läufig an dem starren Festhalten des Besitzstandes
aller Beteiligten. Es ist im Grunde ganz gleichgültig
und gewiss nicht von Personenfragen, die ja bei uns
eine große Rolle spielen, abhängig, wo diese neue
Sammlung aufzustellen wäre. Vielleicht regt mein Auf
satz eine solche Diskussion ernst an. Im Grunde ge
nommen sind alle bisher für die Aufstellung für Plas
tiken benützten Räume nicht sehr geeignet. Die Haupt-
stiieke des Vorhandenen verteilen sich wie folgt: In
den ehemals kaiserlichen Sammlungen, vor allem die
Krone aller Stücke, die Krumauer Madonna um 1390.
Etwa zwei Jahrzehnte später entstanden die Stücke aus
Groß-Lobming im mittleren Murtale. Es ist lustig an
zuhören, daß man sie, als ihre Herkunft noch unbe
kannt war, in Deutschland mutwillig für falsch erklärte.
Hernach hat sie der österreichische Staat durch Kon
fiskation erworben. Das Martha-Figürchen ist alter
Bestand der gleichen Sammlung. Wer weiß, ob man
sie aufgenommen hätte, wenn sie nicht durch die fälsch
liche Taufe als französische Arbeit beachtenswerter er
schienen wäre. Ein deutscher Museumsmann hat über
eine verflossene Leitung der Sammlung den Witz ge
macht, daß sie mit zweieinhalb Augen nach Italien
blicke. Von den weiteren Stücken der jetzigen Auf
stellung ist außer der altberühmten Vergänglichkeits
gruppe eine heilige Anna um 1520 zu sehen. Ich habe
das Stück in der Sakristei der Leobner Kirche Maria
am Waasen entdeckt, von wo es auf meine Anregung
Dr. Zimmermann, jetzt Leiter des Germanischen Mu
seums, für die Staatsgalerie erwarb.
Die beiden gleichfalls steirischen Eiguren Maria
und. Johannes (um 1445) waren mir seit vielen Jahren
im Besitze meines Oheims bekannt, der sie aus dem
Nachlasse eines alten Sonderlings, dem sogenannten
Bilderhans, erworben hat. Schade ist das Fehlen des
Kruzifixes, das der Gruppe ja erst den Sinn gibt. Viel
leicht könnte die Verbindung mit einer anderen mittel
alterlichen Kreuzigung einst glücklich die Komposition
abrunden. Weiters zu erwähnen sind die schöne stark
plastische Reliefmadonna im alten Farbenschmucke aus
dem Kreise von Mauch, das Relief des Meisters von
Irrsdorf, Castiglionische Schenkung; eine frühe itali
enische Madonna ergänzt das Bild für die frühe Zeit.
Eine weitere Neuerwerbung ist die lebensgrosse Ma
donna aus dem Ende des 13. Jahrhunderts, die ich in
völlig übermaltem Zustande in Italien aufgestöbert hatte,
ln der Restaurieranstalt des Hofmuseums schlummert
noch ein grosser Flügelaltar mit charaktervoll derbem
Relief über der ganzen Fläche. Ich werde in kurzem
die Original-Skizze zu dem einen Flügel veröffentlichen.