Internationale
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Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde,
Herausgeber: Norbert Ehrlich.
18. Jahrgang. Wien, 15. September 1926. Nr. 17.
‘Vincent van Gogfis Tragödie.
Sin despräcß mit 2)r. tFetix SRey.
Von Erna Frank, Berlin.
In der Bibliothek von Arles erfuhr ich, daß
Doktor Felix R e y, der Vincent van Gogh bei
seinem dortigen Aufenthalt im Jahre 1889 behandelte,
nach wie vor praktiziert.
Rampe du Pont, in der kleinen Vorstadt Trinque-
taille zog ich die Klingel. Kann ich Herrn Doktor Rey
sprechen? Der Doktor ist nicht zu Hause, kommen
Sie morgen früh um neun Uhr wieder. Ich wurde in
das Ordinationszimmer geführt. Die Tür nach dem
Wartezimmer stand offen. Tief in den Schränken
Präparate in Spiritus, an den Wänden geichgültige
Stiche und ein Oelgemälde minderer Qualität. Klein
bürgerlich, etwas verstaubt die ganze Atmosphäre.
Frau Doktor Rey empfing mich mit Liebens
würdigkeit. Sie möchten meinen Mann sprechen?
Sicherlich wollen Sie von ihm Einiges über van Gogh
erfahren. Er ist im Büro der Wasserwerke an der
Place Lamartine — gehen Sie hin, er wird Sie gern
empfangen. Werde ich nicht stören, gnädige Frau?
Nicht im Geringsten. Ich dankte und ließ mich bei
Doktor Rey melden. Verzeihen Sie, daß ich bei Ihnen
eindringe. Sie haben Vincent van Gogh gekannt,
würden Sie mir von ihm erzählen? Sie sind Künstlerin?
Eben deshalb möchte ich von Ihnen Persönlichstes
erfahren — Sie verstehen.
Doktor Rey sagte: Ja, ich habe van Gogh gut
gekannt. Er war ein Jahr in Arles und ich habe ihn
oft gesprochen. Er arbeitete mit fieberhafter Inten
sität und erstaunlicher Schnelligkeit. Mich hat er auch
gemalt. Eines Tages erklärte er mir die Gesetze der
Complementärfarben. Er deutete auf ein Blatt Papier.
Glauben Sie, daß das weiß ist? Keineswegs — blau,
gelb, rot, grün — weiß existiert nicht — alles ist
Farbe.
Van Gogh war eine stolze Natur. Ich hatte keine
Ahnung, daß er hungerte. Darüber hat er sich mir
gegenüber niemals ausgesprochen. Er stellte in seinem
Zimmer etwas zum Essen auf den Ofen und wenn er
von der Arbeit erschöpft nach Hause kam, war das
Feuer erloschen, das Essen roh oder verbrannt. Dann
ging er in das Caf£, das er so oft gemalt hat, trank
einen Schwarzen nach dem andern und rauchte un
mäßig. Ich glaubte, es sei eine seiner Marotten —
konnte ich ahnen, daß er seinen Hunger übertäubte?
Ich hätte ihm selbstverständlich Unterstützung ange-
boten.
Wenn van Gogh seine bizarren Leinwände malte,
wurde er von der Bevölkerung verspottet. Die Kinder
selbst verlachten den „diable roux“. Mit dem Brief
träger R o u 1 i n freundete er sich an. Mit diesem
einfachen Mann unterhielt er sich stundenlang bis in
die späte Nacht in der kleinen Cafe-Bar. Er malte
sein Porträt und auch das seiner Nachbarin Madame
G i n o u s t e. Diese machte ihn mit dem Zuaven-
leutnant Milliet bekannt, den er ebenfalls porträ
tierte. Van Gogh sah aus wie ein Heiliger, märtyrer
haft, ich möchte sagen, wie Christus selbst. Das Volk
erschwerte ihm das Leben. Es kam soweit, daß er kein
Modell mehr fand. Nicht einmal die Frauen von der
Straße wollten ihm sitzen. Eines Tages erzählte er
mir daß er einen Brief aus Pont-Avex von seinem
Freund Gauguin bekommen habe, worin dieser
sich über seine ewige Misere aussprach. Sofort ver-
anlaßte er ihn, nach Arles zu kommen.
Gauguin kam auch. Er war ein schöner,
starker Mensch. Das Zusammensein der Beiden ge
staltete sich äußerst schwierig und wurde schließlich
unerträglich. Sie führten gemeinsame Kasse. Vincent
wollte jeden Sou für Leinwand und Farbe ausgeben,
Gauguin hatte persönliche Bedürfnisse. Die künstleri
schen Anschauungen platzten aufeinander. Der pri
mitivere Gauguin warf van Gogh seine. Romantik vor,
es kam dauernd zu Reibereien. Die Exaltation von van
Gogh wurde immer größer, Gauguin hatte genug
der Unzuträglichkeiten und ging nach Paris.
Doktor Rey, der während seiner Erzählungen
seine warme Menschlichkeit offenbarte, fuhr fort:
Nun kommt das Furchtbare. So wie Gauguin abgereist
war, schnitt sich van Gogh ein Ohr ab und trug es
um 3 Uhr morgens in einem Briefumschlag zu einem
Mädchen in ein öffentliches Haus. Die Polizei griff
ein, man brachte ihn ins Hospital, wo ich ihn be
handelte. Sein Bruder Theo kam von Paris, — nach
vierzehn Tagen konnte ich ihn entlassen. Er ging in
sein „gelbes Zimmer“ auf der Place Lamartine zurück.
Nun machten ihm die Leute das Dasein zur Hölle. Man
bildete Gruppen vor seinem Haus und erkletterte die
Fenster, um ihn wie ein Tier im Käfig zu betrachten.
Die Erregung des Kranken wurde immer größer und
die Anfälle wiederholten sich. In lichten Momenten
arbeitete er unermüdlich. Schließlich verlangte er
selbst, in einer Anstalt untergebracht zu werden. Im