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Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde.
Herausgeber: Norbert Ehrlich.
19. Jahrgang. Wien, 15. Februar 1927. Nr. 4.
SFranzösiscfie ßiifiograpfiien
Zur ‘Versteigerung Bei PfCottstein <$ SPuppef.*
1 Von ‘Dr. tJiufs eesser, ‘Berlin.
Henri Bouchet, der Bibliothekar des Cabinet des
Estampes in Paris erzählt, daß es in der ersten Hälfte
des 19. .Jahrhunderts nicht selten war, wenn Pariser
Antiquare Kupferstiche des 18. Jahrhunderts als Ein
wickelpapier für Blätter der großen französischen
Künstler-Lithographen verwendet haben. Er will da
mit in schroffer Form den hohen Rang, welchen die
künstlerische Litographie im
Kunstleben jener Zeit einnahm,
zu erkennen geben, ihre do
minierende Stellung charakteri
sieren, vor welcher die Kupfer
stiche des 18. Jahrhunderts zu
rücktreten mußten.
Und in der Tat hat die Litho
graphie, in Deutschland erfun
den, erst in Frankreich ihre
künstlerische Ausdrucksform u.
ihre Vollendung erhalten und
sich zu der am meisten be
günstigten Klasse der Graphik
ihrer Zeit erhoben. Zunächst,
weil sich ihrer bedeutende Ta
lente und die führenden Künstler
mit Begeisterung annähmen,
dann aber, weil sie in ihrer
starken Ausdrucksfähigkeit, wel
che spontane, skizzenartige Auf
zeichnungen in ihren subtilsten
Empfindungen gestattet, dem
französischen Geiste Mög
lichkeiten bot, welche andere
graphische Herstellungsarten
nicht besaßen. Denn die auf den Stein gezeich
nete künstlerische Eingebung eines Malers oder Zeich
ners bedeutet das fertige Kunstwerk, im Gegensatz
zu Kupferstich und Radierung, welche technisch kom
plizierte, handwerksmäßige Bearbeitung erfordern
und in diesem Verfahren ihre künstlerische Ursprüng
lichkeit verlieren können.
Goethe sowohl als auch Napoleon I. haben den
ersten Erscheinungen in Deutschland und in Frank
reich reges Interesse zugewandt, der Generalinspektor
der französischen Museen und selbst ausübender
Künstler von Ruf, Dominique Vivant Denon, hat die
*) Die Versteigerung findet am 15. und 16. März statt.
neue Kunst von Deutschland nach Paris gebracht, wo
sie von den Mitgliedern der kaiserlichen Familie, der
Aristokratie, selbst der Armee aufgenommen, vielfach
mit Talent ausgeübt und zur mondänen Beschäftigung
erhoben wurde. Von Mitgliedern der Familien Orle
ans und Bonajpärte gefertigte Porträts und Veduten
gehören zu den reizvollsten und künstlerisch wertvol
len Inkunabeln der französi
schen Litographie.
Was der Lithographie je
doch universelles Ansehen er
warb u. ihre Bedeutung im Fluge
an die Spitze der graphischen
Produktion hob, war das Ein
treten der großen Maler der
Zeit, eines Ingres, Proudhon,
Vernet, Isabey als lithographie
rende Künstler, waren die star
ken Werte, welche Deveria,
Gericault, Delacroix, Bonington,
Charlet, Raffet mit dem Litho
graphenstift geschaffen.
Es wird behauptet, daß der
Lithographie das Wiederauf
leben der Napoleonischen Le
gende nicht zum kleinsten Teile
zu verdanken ist, sicher aber
darf man sagen, daß die kleinen
Blätter eines Charlet und Raffet
den Ruhm des kleinen Korporals
bis in die Hütten des kleinsten
Dorfes in Frankreich, bis in die
entlegensten Winkel des Erd
kreises getragen haben.
Was die Maler der bürgerlichen Gesellschaft und
der eleganten Welt, Henri Monnier, Gavarni, Eugene
Land, Gustave Dore und später Philipon und Daumier
mit ihrem Stabe, der Kunst in ihren Lithographien ge
schenkt haben, stellt ein Kulturbild dar, so erschöp
fend wie keines der vorangegangenen Jahrhunderte
es zu geben imstande war.
Neben den Werken rein künstlerischen Inhaltes
hat gallischer Humor und die geistreiche Spontanität
unserer westlichen Nachbarn in der Lithographie be
sonders ein Kunstgebiet zu einer Blüte gebracht,
Fig. I. Daumier, Szene vor einem
Wachtlokal.