Internationale
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Zentralblatt für Sammler, Liebhaber und Kunstfreunde
Herausgeber: Norbert Ehrlich
20. Jahrgang Wien, 15. August 1928 Nr 16
JCundert Jahre Jleclam.
Wenn wir heute den Namen Reclam hören,
denken wir unwillkürlich an die kleinen braunen
Bändchen, die Universalbibliothek, die
uns die erste Bekanntschaft mit den Klassikern und
anderen guten Schriftstellern vermittelt haben,
Durch diese Bändchen ist der Name des Hauses
Reclam wohl berühmt geworden, aber die Grund
lage zu seinem heutigen Sein waren sie nicht. Viel
mehr geht dies auf das „Literarische Muse-
u m“ in Leipzig zurück, ein Raum, in dem man gegen
Bezahlung eine große Reihe von Zeitungen lesen
konnte. Am 1. Oktober 1828 wurde der heutige
Verlag Philipp Reclam jr. in Leipzig aus
dem Literarischen Museum, dem eine Leihbibliothek
von 70.000 Bänden angeschlossen war, von Anton
Philipp Reclam gegründet.
Politische Kampfschriften, die in dem Oester
reich Metternichs und dem übrigen Deutschland
große Verbreitung fanden, waren die ersten Verlags
werke des jungen Unternehmens. Welchen Erfolg
der Verlag damit errang, bewies der Ausspruch des
österreichischen Gesandten in Dresden, der Leipzig
als den „Hauptsitz der gewöhnlichsten und gewis
senlosesten Buchmacherei bezeichnete, in dem die
Firma Reclam sich das Monopol gesichert, zu haben
scheine.“ Nachdem dann der Gründer des Hauses
eine gut eingerichtete Buchdruckerei erworben
hatte, konnte er darangehen, seine Gedanken, dem
Volk durch Massenauflagen billige Wissenschaft und
Unterhaltung zu bieten, zur Tat werden zu lassen.
Ein für die damaligen Zeiten besonderes Wagnis be
deutete die Herausgabe von Shakespeares
Werk e n zu dem billigen Preis von zwei Talern,
Warum Reclam gerade einen ausländischen Klassi
ker dem deutschen Volk zuerst in einer billigen Aus
gabe bot, lag daran, daß die Verleger von Schiller,
Goethe und Lessing durch ein besonderes Privileg
gegen Nachdruck der Werke dieser Schriftsteller
geschützt waren. Mit dieser Bevorzugung räumte
erst das neue Deutschland auf, und als dann Goethe
und Schiller im Jahre 1867 frei wurden, konnte An
ton Philipp Reclam, unterstützt von seinem inzwi
schen (1862) in die Firma eingetretenen Sohn Hans
Heinrich, endlich zur Ausführung seines schon
lange bedachten Plans schreiten. Er wollte eine
Sammlung von Einzelausgaben deutschen und aus
ländischen Schrifttums in unterhaltender und be
lehrender Form schaffen, die so billig sein sollte,
daß sich jeder Stand ohne große Unkosten eine um
fassende Bibliothek ihn interessierender Werke zu
legen konnte,
Im November 1867 erblickte dann die aus diesen
Ideen geborene Universalbibliothek das
Licht der Welt. Sie war, wie sich im Laufe der Jahre
erweisen sollte, eine Kulturtat ersten Ranges. Von
den ersten 35 Heften — die erste Nummer enthielt
den ersten Teil von Goethes Faust — die zusammen
zur Ausgabe gelangten, ist heute noch keines völlig
veraltet. Ein Beweis dafür, wie klug der Verlag ge
wählt hatte. Die inzwischen auf 6920 Nummern her
angewachsene Sammlung, die jetzt von einigen wert
losen Ausgaben (der Liebhaberbühne) gesäubert
wird, mußte natürlich in Form und Druck ihre vor
60 Jahren begonnene Normung der heutigen Ge
schmacksrichtung anpassen. Ein schlankeres Format
und der von Ehmcke geschaffene neue Umschlag
wirken Wunder. Die Universalbibliothek ist modern
geworden und trotzdem ihrer alten Ueberlieferung
treu geblieben.
Inzwischen sind an die Spitze des sich immer
mehr vergrößernden Verlags in Dr. Philipp Ernst
Reclam und Hans Emil Reclam die beiden Söhne des
1917 zurückgetretenen und 1920 gestorbenen Hans
Heinrich Reclam getreten.
An Neuschöpfungen brachte der Verlag in den
letzten Jahren eine Erneuerung der veralteten
Reclamschen Klassiker unter dem Namen Helios
klassiker, die von bedeutenden Buchkünstlern, u.
a. E. R. Weiß, geschmückt wurden. Der Leipziger
Künstler Erich Grüner besorgte die Ausschmük-
kung der Einzelausgaben (Freytags Romane, Dosto
jewskis Brüder Karamasow), Gute moderne Erzäh
ler bringt Reclams Romanreihe, während die von
E. R. Weiß betreute Sammlung Junge Deutsche den.
Werdenden helfen will. Zum Schluß seien noch das
Praktische Wissen, eine technisch-geistige Buch
form, und die Wochenschrift Reclams Universum
erwähnt.