GHRTENSTHDTPOLITIK IN ENGLHND
em ausgezeichneten Bericht des Londoner Mitarbeiters M. W. der
Frankfurter Zeitung zufolge tagte eine der Kongreßfit)ungen des
VIII. Internationalen Wohnungskongreffes (Huguft 1907), nämlich jene,
in der das von Ebenezer Howard gedruckt vorliegende Referat über
»Die Gartenftädte und die übermäßige Volksdichte« erftattet wurde, in
der allerdings noch recht primitiven Tocon Hall der förmlich über Nacht
entftandenen Gartenftadt Letchwortb, diefer eigenartigften Schöpfung
englifcher Energie. Das können die Engländer wirklich mit Stolz von
fich fagen: So etwas foll uns einer nachmachen! Ein Ouinquennium
ift es her, feit Howards Buch »Gartenftädte von Morgen« erfchienen ift
und fchon find Howards Ideen an einem praktifchen Beifpiel erprobt
und fie haben fich heute fchon als fieghaft erwiefen. Es konnte gar
nicht anders fein, ift doch der Grundgedanke, der von der Erwerbshaft
zermürbten Großftadtmenfchen durch die zeitweilige Rückkehr zur
Scholle lebenstauglich zu machen, ein in jeder Beziehung fo gefunder,
daß die Idee fchon von verteufelt ungefchickten Leuten hätte verwirk
licht werden müffen, hätte ihre Husführung nicht annähernd das Ho«
wardfche Idealbild erreicht. Eine fo gute und notwendige Sache muß
gelingen, wenn die Vorbedingung erfüllt ift, d. b. wenn das Geld dazu
da ift. Das aber bringt England immer mit fpielerifcher Leichtigkeit auf.
Was anderswo — auch in Deutfchland — noch die größte Schwierigkeit
bildet, was der öfterreichifche Großkapitalift noch gar nicht begreift,
daß man gemeinnütziges Wirken auch mit einem, wenn auch vielleicht
etwas weniger profitablen Gefchäft verbinden kann, der praktifcbe
Sinn der Engländer hat in diefem Wohltun, das befcheidene Zinfen
trägt, eine ewige und reich fprudelnde Geldquelle gefunden. □
Boumville und Port Sunlight lehnen fich gewiffermaßen an benach
barte Großftädte an, während Letchwortb ohne diefe Nachbarfchaft
ganz auf freiem Gelände erftebt, wo bisher ausfchließlich nur Boden
kultur betrieben wurde. Der näcbftgelegene Ort ift das malerifcbe
Landftädtcben Hitcbin, deffen rote Dächer mit dem Grün der Umrah
mung zu einer leuchtenden Farbenfymphonie verfchmelzen. Wer von
London nach Letchwortb kommt — der »Garden City-Expreß« vermittelt
den Verkehr in 55 Minuten - der wird zunäcbft verfucht fein, Hitcbin
für die Gartenftadt zu halten, fo mitten im Grünen liegt das Städtchen
am Fuße eines Waldbügels, diefen noch berankriecbend. Erft wenn
fich fein Blick zur rechten Seite der Bahn wendet, die das Gelände
durcbfcbneidet, wird er feinen Irrtum gewahr, fln dem überall Neuen
und dem vielen Unfertigen, das er nun fcbaut, erkennt er leicht, daß
hier Howards Gartenftadt erfteben foll, foweit fie nicht fchon erftanden ift.
Der Plan der Gründer Letcbwortbs, der fiktiengefellfchaft »Firft Garden
City, Ltd«, gebt dabin, allmählich die Stadt mit 32 000 Einwohnern zu
befiedeln. Zu dem Ende wurden 3818 Morgen Grund erworben, von
denen aber nur 1300 Morgen Bauland find. 2500 Morgen Land um
geben die Stadt mit einem zu ihr gehörigen, eben ausfchließlich für
Bodenkulturzwecke dienenden Gürtel. Hiervon find bereits 411 Morgen
an bäuerliche Kleinbefitjer verpachtet, die hoffen dürfen, in wenigen
Jahren durch die Deckung der Bedürfniffe an flgrarprodukten für eine
Bevölkerung von 32000 Köpfen ein auskömmliches Dafein zu finden.
Das gefamte Gelände wurde famt Baumbeftänden und Gebäuden —
diefe batten Feuerverficberungsgefellfchaften auf allein 84000 Pfund ge»
fcbätjt - um rund 153000 Pfund erftanden. Das zum Ankauf und zur
Inftandfetpmg des Geländes nötige Kapital wurde durch die Ausgabe
von Aktien der erwähnten Gefellfcbaft bereingebracbt. Die Aktien
geben Anrecht auf eine Kumulativdividende von 5 Prozent. Außerdem
wurde ein Kapital von 126000 Pfund zu einem Zinsfuß von 4 Prozent
und darunter erhoben. Der dank diefer geringen Verzinfung mögliche
Überfcbuß foll den kommunalen Aufgaben Letcbwortbs dienen. Später
hin foll eine öffentliche Oberverwaltung (Truft) gegründet werden, die
das ganze Unternehmen von der Aktiengefellfcbaft zu Nut>en aller Be
wohner auf fich nehmen wird. Die Aktiengefellfcbaft verbaut das Land
nicht felbft, fie gibt aber auch niemandem den Grund zu eigen, fondem
fie verpachtet ihn an einzelne Bewerber (es können dies auch Bau
unternehmer oder Gefeltfcbaften fein) auf den Zeitraum von 99, unter
gewiffen Vorausfetpmgen auch von 999 Jahren. Die Verteilung des
Baubodens erfolgt nach dem Garden-City-Syftem in der Weife, daß vor
allem 65 Morgen für die Schaffung von Plätjen, die zu bepflanzen find,
zum Teil auch fchon bepflanzt find, freigehalten wurden, und daß im
übrigen, ähnlich den für Port Sunlight und für Boumville geltenden
Bebauungsprinzipien, nur je 12 Arbeiterhäuscben auf einem Morgen
erftellt werden dürfen. D
Die Aktiengefellfcbaft »The Firft Garden City Co.« macht es fich zur
Aufgabe, den Grund und Boden und die zur Befiedlung unerläßlichen
Erfordemiffe zu erftellen. Sie baut die Straßen, Wege, die Kanalifie»
rung und Wafferleitung, fie fcbafft die Beleuchtung und bepflanzt die
Straßen mit Bäumen — kurz, fie übernimmt zunäcbft die kommunalen
Aufgaben und nach Deckung der dadurch erwachfenen Koften ver
pachtet fie das Terrain für ein Haus famt Gartengrund - es find fchon
iebr bübfcbe, wenn auch noch junge Gärtchen in Letchwortb zu feben
- um 25 bis 30 Schillinge. Die Bebauung felbft ift verfcbiedenen über
laffen. Zunäcbft Bauunternehmern (die Gefellfcbaft bat damit gute
Erfahrungen gemacht), manchmal mit Hilfe einer Baugefellfcbaft, der
«Cooperative Permanent Building Society«, dann Privatperfonen, die
Häuschen bauten, um fie weiterzuvermieten - es gibt fchon Häuschen
gegen wöchentlich 5 Schilling Miete und Abgaben -, dann von Fabrik-
befit>em, die auf dem gepachteten Grund Häuschen für die bei ihnen
befcbäftigten Arbeiter errichten, viertens hat eine Genoffenfcbaft, die
Aktiengefellfcbaft »The Garden City Tenants Co.« eine Anzahl febr ge
fälliger und praktikabler Häuschen gebaut und fie weiter vermietet,
die billigften gegen 4 1 k Schilling Woebenmiete. Eine zweite Aktien-
gefellfcbaft »Letchwortb Cottage and Buildings Ltd.« verfolgt wieder den
Zweck, für Handlanger und fonft fcblecbt bezahlte Arbeiter zu bauen.
Einige diefer find jet)t eben auf dem Terrain der 19]07er Ausftellung zu
feben. Das ift nämlich noch ein fechfter, vön dem praktifchen Sinn der
Engländer zeugender Weg zur Befiedlung, fie veranlaffen Intereffenten-
vor allem Ardntekten - Mufterbäufer auf einem Stadtterrain zu er
ftellen, die zunäcbft den Zwecken der Ausftellung dienen, dann aber
Wohnzwecken zugefübrt werden. Diefe Ausftellungsbauten find nicht
für den Tag, freilich auch nicht für die Ewigkeit erftellt. Wer diefe
»dünne« Bauweife fiebt, dem wird, wenn er dabei an deutfebe Mauer»
ftärken denkt, wohl angft und bange. Dennoch werden die deutfeben
und öfterreiebifeben Baufacbverftändigen diefe »Witje«, Bauten billig und
doch gefabrengefcbüt)t zu erftellen, mit Nutzen ftudiert haben. Einer
fklavifcben Nachahmung der englifeben leichten Bauart ftebt wohl das
mitteleuropäifcbe Klima zumal im Winter entgegen, aber daß Bau»
erleicbterungen für Einzelwobnhäfer gefchaffen werden müffen, ift wohl
allen klar geworden, die diefe Konftruktionen gefchaut haben. Im
tragenden Untergefcboß dünne Ziegelwände, im Obergefcboß Bretter-
ifolietwände, Holztreppen, etwas niedrigere Maße für die Zimmerböben,
aber alle Fenfter ins Freie mündend -und weiter bei Ausnütpmg jedes
Winkels nirgends Winkelwerk, weil jede durch irgend eine Konftruktion
gewonnene "Ecke als in die Wand eingelaffener Schrank Verwendung
findet, vor allem aber helles, freundliches Licht in allen Räumen. Im
Parterre die Küche, die zugleich als Speiferaum dient, daneben die
Spülküche (häufig zugleich Wafchküche und Baderaum) und außerdem
die gute Stube, ein in der Regel durch ein einteiliges oft vorgebautes
Eckfenfter malerifcb geftimmter Raum, der zur freundlichen Ausgeftal-
tung förmlich aufreizt und im Stockwerk zwei, drei, auch vier Bedrooms
- keiner groß, aber jeder für einen Erwachfenen oder für zwei Kinder
ausreichend. Viele find groß genug, um der Mutter und zweien der
kleineren Kindern nachts genug Luftraum zu bieten. So ift Haus um
Haus, jedes fcbmuck von außen und praktifcb von innen, verfeben mit
modernem Komfort - Gas- und Wafferzuleitung, Kaminen in allen
Räumen, Badezimmer ufw., alles Errungenfcbaften, die der englifche
Arbeiter heute nicht mehr wiffen will. Überall lieht man Häuferpaare.
Wieder kann man von den praktifchen Engländern lernen. Sie bauen
ihre Häufer paarweife, weil fie dadurch eine Mauer erfpaten. An
einer ftärkeren Mittelmauer finden beide Häufer ihre Stütze und die
Koften diefer Mauer verteilen fich auf zwei Häufer. Arcbitektonifcb
find fo zwei Häufer oft fo in eins verwaebfen, daß man vermeint, nur
ein Haus vor fich zu haben, dies befonders dann, wenn die Hauptein
gänge feitlicb angeordnet find. D
Im Jahre 1877 tat Lord Beaconsfield den Ausfprucb: »In England ift
es die allgemeine Überzeugung, daß eine Befferung der Wohnungs-
verbältniffe der arbeitenden Klaffen die unerläßliche Vorbedingung für
den Erfolg jeder anderen fozialen Reform ift.« n
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