classischen Muster entgegenleuchtet, nun, so folge er dem
Drange seines Herzens und sei „classisch“. Aber niemals
darf der innere Drang gehemmt und die eigene Überzeugung
gebrochen werden. Eine jede Art ist erlaubt, die technisch
möglich und durch die Individualität des Künstlers mora
lisch geboten ist; und jede unerlaubt, die bloss gelehrt, ge
lernt, anempfunden, nachgeahmt, akademisch ist. Au
diesem Wege gelangen wir von der Wahrheit auch un
mittelbar zur SCHÖNHEIT. Denn es ist ja der einzige
Weg, auf dem die Schönheit jemals erreicht wurde. Aus
keinem anderen Grunde sind die grossen Meister der Ver
gangenheit unsterblich und berühmt geworden, als weil
in ihren Werken ihre Seele zur Erscheinung kam. Der
Gebrauch des Wortes „schön“ ist scheinbar ein schwanken
der und verworrener. Schon deshalb hätte man es ver
meiden sollen, bestimmten Formen und Normen das Fra-
dicat der „Schönheit“ ausschliesslich oder besonders bei-
zulegen. Der Sprachgebrauch lehrt uns aber auch, dass
über die Bedeutung des Wortes eigentlich gar kein Zweitel
bestehen kann. Wir sagen, dass etwas schön sei, wenn wir
davon ergriffen sind; wenn der Gegenstand, den wir be
trachten, uns so erfüllt, dass wir nichts anderes neben mm
wahrnehmen oder betrachten können. Wenn einer nmmtig
an einer Sache vorbeigegangen ist, so wird er sie vielleicht
als „hübsch“, als „nett“, aber gewiss nicht als „schon be
zeichnen. Wenn einer versunken war in den Anblick eines
Gegenstandes, so wird er sagen; er war schön. „Schön ist,
was gefällt“; und was gefällt, das zieht auch an, das fesselt,
das lässt nicht sobald wieder los. „Schön ist, was gefällt ;
aber gefallen mag dem forschenden Geiste und der instinc-
tiven Empfindung nicht nur das Zarte, Liebliche, das An
muthige, das „Gefällige“, sondern auch das Imposante,
dasWilde, das Strenge, das Herbe. Wenn Geist zum Geiste
und Seele zur Seele spricht, so nehmen wir jede Schroffheit
und jede Härte in Kauf. Wenn ein Anblick durch seine
Erhabenheit unser Bewusstsein ausfüllt, so bedenken wir
nicht, dass es vielleicht ein vernichtenderAnblick ist. Schön
ist der Frühling, aber schön kann auch der Herbst sein,
wenn er uns mit seinen Schauern erfüllt; schön ist ein
ruhiger See und ein klarer Bach, aber noch viel schöner
ist die Brandung des Meeres und das Herniedertosen des
Bergstromes; schön sind die steilsten Gipfel und die schroff
sten Abgründe* Schön sind sie, weil wir beim Schauen jede
Furcht verlieren und sozusagen der Gefahr entgegenjubeln.
Weil wir NUR schauen und sonstnichts. Aus dem Scheine,
den wir erschauen, spricht auch das Wesen der Dinge zu
uns und nimmt von unserem eigenen Wesen Besitz. Wir
sind gleichsam das Ding, das wir schauen. Das klingt
mystisch und ist doch eine tägliche Erfahrung. Schön ist
auch das Gesicht des hässlichsten Menschen, wenn seine
Seele aus den Zügen leuchtet und der Strahl des Auges
seine Begeisterung oder seine Sehnsucht blitzartig auf uns
überträgt, dass wir mit ihm singen oder seufzen möchten.
Schön ist vor allem der Schmerz, und schön ist auch der
Tod. So gross dieWelt ist, soviel Schönheit gibt es.Darum
ist auch das Reich der Kunst unermesslich. Darum ist es
Thorheit, irgendeine Art künstlerischer Darstellung als
die beste oder die schönste zu bezeichnen. Darum wissen
wir, dass nicht nur Raphael, sondern auch Michelangelo,
nicht nur Rubens, sondern auch Rembrandt, nicht nur die
Antike, sondern auch die Kunst Dürers schön ist und dass
die Werke von Shakespeare, Beethoven und Richard Wag
ner zwar urgewaltig, aber auch wunderschön sind. Darum
glauben wir, dass die moderne Malerei in ihrer Wahr
haftigkeit gewiss mehr Schönheit zutage fördern wird, als
dierechnende und klügelnde Art der Nachtreter undNach-
beter von gestern. Darum hoffen wir, dass die moderne
Malerei uns neue Schätze der Welt erschliessen wird und
vor allem die reichen Schätze, die in den Seelen der Künst
ler liegen. Und darum hegen wir auch die Zuversicht und
haben schon jetzt Beweise dafür, dass in dieser Kunst end
lich wieder die Ideen der Zeit und die Gefühle und Be
strebungen der einzelnen Classen und Nationen über
zeugenden Ausdruck finden werden. Was ihr auch geben
mögt, es wird ein Stück von eurem Selbst, euer geistiges
und seelisches Eigenthum sein. Euer Werk — und sei es
noch so klein — wird immer GANZ NATUR sein, nicht
nur zur Hälfte. Ihr werdet nichts bringen, was ihr nicht
geschaut, empfunden, ERLEBT habt. Und so muss auch
der Sieg euer sein! .
Aber freilich, da sehe ich wieder die Köpfe schütteln,
da höre ich hundert Fragen und tausend Einwendungen,
und immer noch behaupten nicht Wenige, die „wahre
Kunst müsse jetzt zugrundegehen. Denn Willkür, Zucht
losigkeit könne doch keine Blüte verbreiten. Bluten
wollen gehegt und gepflegt sein. Nur strenge Schulung
führe zur Meisterschaft. Und sei das nicht ein Hexen-
sabbath von Bizarrerie und Unvermögen, was jetzt unter
dem Namen „modern“ in den der Kunst geweihten Räu
men schnöde Orgien feiert? — Ich kenne das. Ich werde
ein anderesmal darauf antworten.