KINDERZEICHNUNGEN.
D ie natürlichen Zeichentriebe des Menschen, vor allem
des noch unverbildeten Kindes, sind ein organischer
Vorgang des Mitteilungsbedürfnisses. Zeichnen ist
für das Kind eine Sprache. Alles ist Anschauung und
Vorstellung und daher ist der Ausdruck bildlich. Die Be^
griffsweit und das abstrakte Wort sind noch unentwickelt.
Zeichnen ist aus diesem Grunde die primärste Form der
Mitteilung. Und die natürlichste. Selbst die Schrift ist aus
der Zeichnung hervorgegangen, wie die Bilderschriften alter
Völker lehren. Auch die primitiven Völker, die alten Ägypter,
Assyrer, Griechen u. a. teilen ihre Eindrücke in dieser kind^
liehen Sprache mit, in der Zeichnung. Anderseits legt der
Mensch in seiner persönlichen Entwicklung die Entwicklungs
phasen der Menschheit im kleinen zurück. Die Überein
stimmung der Kinderzeichnung mit den bildlichen Dar
stellungen primitiver Völker ist geradezu verblüffend. Die
primitiven Seelen drücken in der Zeichnung mehr oder
weniger schematisch das Bild aus, das sie von der Außen
welt in ihrem Geiste empfangen haben. Nicht die formalen
und räumlichen Verhältnisse sind das nächstliegende, sondern
das Wissen einer Fülle von Einzelheiten, die in den kind
lichen Bildern gewissenhaft eingezeichnet werden. Weil das
Material, auf dem sie ihren Anschauungsinhalt darstellen, die
Farbe oder der Stift, jedenfalls aber die Fläche ist, so ergibt sich
eine materialgemäße flächige Darstellung, die um so natürlicher
ist, als der optische Eindruck der Körper auf die Netzhaut
ebenfalls nur ein flächiger ist und das Wissen einer plastischen,
dreidimensionalen Räumlichkeit das Ergebnis einer anderen
Erfahrung ist. Jede optische Erfahrung, d. h. jede Wahr
nehmung des Auges, ist die Wahrnehmung von Flächen.
Dieser Wahrnehmung entsprechen die Zeichnungen. Von
den unbeholfensten Zeichenversuchen primitivster Völker
und der Kinder aller Zeiten bis zu den vollendeten alt
griechischen Vasenbildern und der japanischen Zeichenkunst,
nicht minder als bis zu den alten Fresken und von da zu
Puvis de Chavanne und zu Klimts Fries und Beardsleys
Zeichnungen herrscht eine natürliche künstlerische Wahrheit.
Die Konsequenz der optischen Wahrnehmung, die eine
Wahrnehmung von Flächen ist, wird auf der ganzen Linie,
die sich an natürliche organische und darin auch natürliche
Voraussetzungen hält, nicht verleugnet.
Daß die Naturalisten aller Zeiten die Fläche innerhalb ihres
Bildrahmens nicht als Fläche, sondern als Welt für sich
behandeln und einen plastischen, scheinbar körperlich greif
baren Eindruck hervorbringen wollen, um an dieser Plastik
die Brechungen des Lichtes und seiner Wunder zu offenbaren,
kann gegen die oben erwiesene Wahrheit nichts ausrichten.
Denn gerade die logische und folgerichtige Entwicklung des
Naturalismus in der Malerei führt immer wieder zur strengeren
Auffassung der Malerei als Flächenkunst zurück, wie der
heutige Umschwung der Kunstanschauungen zu gunsten
des Stils beweist. Wenn der Naturalismus die schwankenden
Erscheinungen des Lichtes und Schattens und der Farben
reagenzen aufeinander, die durch die plastischen Eigenschaften
der Körper hervorgerufen werden, an denen das Licht nieder
fließt, gebrochen und reflektiert wird, wieder revidiert und in
dem malerischen Bewußtsein befestigt hat, wird das malerische
Element wieder selbstherrlicher, seiner natürlichen Grund
lage, der Fläche, stärker bewußt, dekorativer, flächiger, was
man schlechthin stilistisch nennt. Von Natur wegen ist
Malerei immer Flächenkunst, sowohl hinsichtlich der dar
stellerischen Mittel als der organischen Bedingungen des
Sehens. Der künstlerische Instinkt, der das Unbewußtsein
b
„Es gingen drei Jäger wohl auf die Pirsch.“ (2/3 Gr.)
Spontane Kinderzeichnungen,
a) Knabe von 10 Jahren, b) Knabe von ii Jahren.
ebenso wie das höchste Bewußtsein leitet, hat in beiden
Fällen die gleiche Wahrheit zutage gefördert. Der Naturalis
mus, der bald in der Malerei plastische Wirkungen, bald in
der Plastik malerische Wirkungen anstrebt, ist bloß ein
wenn auch notwendiger Durchgangspunkt, niemals aber Ziel
und Erfüllung der Kunst.
I Die plastische und räumliche Ausdehnung der Körper, als
ihrer dritten Dimension, ist keineswegs eine Erkenntnis, die
durch das Auge gemacht wird, sondern eine Erkenntnis, die
durch die Bewegung und den Tastsinn gemacht wird. Man
lernt die Ausdehnung der Körper kennen, indem man an
ihnen entlang geht. Die Grundlage des Maßes ist die Be
wegung. Durch die Bewegung werden freilich bestimmte
Erfahrungen über Größen und Breitenverhältnisse befestigt,
die in der spezifisch flächigen Sehwahrnehmung eine gewisse
Mitwirkung erlangen. Die plastische und räumliche Dar
stellung jedoch gehört zufolge der natürlichen Grund
bedingungen in das Gebiet der Plastik und der Architektur.
In jeder organischen Kunst sind die natürlichen Grenzen
streng beachtet; die stilistische Kunst erscheint durchaus
natürlicher als die naturalistische.