glaubt nicht, dass die Tugend belohnt
wird und das Laster bestraft. Er glaubt
viel eher an die gezüchtigte Tugend.
Und er will es so. Er würde eine
Tugend verachten, die etwas um des
Lohnes Willen thäte. Die Tugend hat
ihren Lohn in sich. Sie weiss sich in
Übereinstimmung mit den Gesetzen des
Lebens. Und sie fühlt sich in dieser
Übereinstimmung glücklich. Nur die
Tugend ist Glück. Nur die wohlwol
lenden Gefühle sind Glück. Nur Lieben
und Bewundern ist Glück. Und dem
Weisen wird alles zum Gegenstand der
Liebe und Bewundernng. Er ist für
alles dankbar, was er empfängt. Er
bringt jedes böse und gute Ereignäss
zum Blühen; ihm reifen überall süsse
Früchte. Was ihm begegnet, wird ihm
ein inneres Erlebnis; mehrt seineinneren
Schätze. Und dieser innere Reichthum
ist Glück. Also ist der Weise glück
lich. Da nur der innerlich REICHE
glücklich, so ist Maeterlinck^ Weiser
kein Entsagender. Im Gegentheil. Der
Weise muss alles erfahren haben. Wohl
lässt sich auch im engsten Kreise Grosses
erleben. Denn nur die Seele erlebt.
Allein die Erfahrung corrigirt. Und
dann übt die Mannigfaltigkeit des Le
bens, die Mannigfaltigkeit der Kräfte.
Sie lehrt uns geschickt handeln. Und
geschickt handeln ist so viel wie richtig
denken. Es heisst schnell denken, mit
dem ganzen Wesen denken. Es weckt
in uns neue Energien, es bereichert uns.
Je wechselvoller unser Dasein, um so
mehr umspannt unsere Weisheit. Und
der Weise muss inmitten aller mensch
lichen Leidenschaften leben; die Leiden
schaften des Herzens sind die beste Nah
rung der Weisheit. Alles, was das
grosse Gefühl des Lebens vermehrt,
alles, was Leben ist, muss der Weise in
sein inneres Gebiet hinüberziehen. Alles
muss er meiden, was in ihm das Leben
entmuthigt. „Denn vergessen wir nie
mals: was auch unsere Mission auf
dieser Erde sein mag, was auch der
Zweck unserer Anstrengungen und
unserer Hoffnungen, das Resultat un
serer Leiden und unserer Freuden, wir
sind vor Allem die blinden Bewahrer
des Lebens. Das ist die einzig absolut
sichere Sache, das ist der einzige feste
Punkt in der menschlichen Moral. Man
hat uns das Dasein gegeben, wir wissen
nicht warum; doch es scheint evident,
dass es nicht geschah, um es zu schwä
chen oder zu verlieren. Wir repräsen-
tiren sogar eine ganz besondere Form
des Lebens auf diesem Planeten: das
Leben des Gedankens, das Leben der
Gefühle und darum ist alles, was ge
eignet ist, die Energie des Denkens
und die Energie des Fühlens zu ver
mindern, wahrscheinlich unmoralisch."
Doch zu den Entmutigungen, die der
Weise fürchtet, gehört nicht die Ent-
muthigung einer traurigen Wahrheit.
Eine entmuthigende Wahrheit ist besser
als eine schöne Lüge, die ermuthigt.
Eine Wahrheit wird die Entmuthigung
stets überdauern; der Muth wird einer
Lüge aber in Bälde versagen. Keine
Wahrheit darf uns auf die Dauer be
trüben. „Alles, was in der Welt ist,
muss für uns gut sein, da wir selbst
eine Frucht dieser Welt sind. Ein Ge
setz des Weltalls, das uns grausam