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und die Seelenstimmung seiner Bewohner aus
drückt. So gehört beinahe für jeden Wohnungs
inhaber ein eigener Künstler. Jedenfalls kann es
nicht genug künstlerischer Individualitäten geben
und diesen nicht Freiheit genug zu ihrer Ent
faltung gegönnt werden.
Wie beschränkt auch eine Begabung sein mag,
sie wird doch noch zu ihrem Rechte kommen;
wie wunderlich ihre Sprünge sein mögen, sie
werden doch irgend wohin passen. Zu diesen
oder jenen Möbeln und Tapeten, in diesen einen
Winkel, für diesen einen Beschauer passt nur ein
einziges Bild — vermutlich wird sich der Künstler
finden, der es zu malen versteht; und dieser oder
jener Maler hat nur eine einzige Farbe, einen ein
zigen Ton — wahrscheinlich werden sich manche
finden, die in ihm sich selber entdecken. So ent
spricht die moderne Freiheit in der Kunst dem
so überaus mannigfaltigen Subjektivismus des mo
dernen Lebens; so wird die moderne Kunst in den
Stand gesetzt, alle Schätze des Lebens aus der
Tiefe zu heben und jene Schönheit, von der die
Welt voll ist, allerorten aufleuchten zu lassen.
Statt eines einzigen, grossen Lichtes eine tausend
fältige Strahlenbrechung! Ist jemand, der sich
dieses Farbenspieles nicht freuen wollte? Kann
jemand dem farbigen Strahl zum Vorwurfe machen,
dass er nicht alle Farben in sich vereinigt und
verschmilzt gleichwie der Strahl des Sonnenlichtes?
Und ist es nicht die Sonne selbst, die eigent
lich nur leuchtet, damit ihre Strahlen sich brechen
und so immer neue Farben und Formen entstehen?
Wer die modernen Erscheinungen aufmerksam
beobachtet, der wird bald genug an den modernen
BLEISTIFT
STUDIE.
„Bizarrerien“ keinen Anstoss mehr nehmen; der
wird entdecken, dass das meiste von dem, was ihm
anfänglich bizarr erschienen, die glückliche Wieder
gabe eines subjektiven Momentes ist. Aber die
falsche Lehre vom ewig Gültigen und von den
Schönheitsregeln hat uns allerdings so sehr daran
gewöhnt, das rein Subjektive, das bloss Zufällige
und Bedingte in der Kunst gar nicht anzuerkennen,
dass es eben darum vielen sehr schwer fällt, sich
in die Berechtigung einer rein subjektiven Auf
fassung und Darstellung hineinzufinden: sie möch
ten jeden Fall gleich für typisch nehmen. Wie
oft, wenn einer z. B. eine neue Farbenwirkung
versuchte, ein Spiel des Lichtes mit dem Pinsel
festzuhalten bemüht war, hört man die Leute
schreien: „Um Gottes Willen! Der möchte uns
weiss machen, dass die Bäume blau sind“ oder:
„Ja, müssen denn die nackten Weiber wirklich
alle grün sein?“ und dergleichen mehr. Aber dem
Künstler fiel es ja gar nicht ein, die Bäume blau
oder alle Weiber grün zu machen. Einmal hatte
er einen bläulichen Schimmer auf einer Anzahl
von Bäumen wahrgenommen und war ergriffen
von dieser eigentümlichen Schönheit; einmal
hatte er grüne Lichter auf einem Frauenleibe
spielen gesehen und war gebannt von dem An
blick. Das hat er nun zum Bilde werden lassen.
Morgen wird er wieder andere Bilder malen und
von niemand fordert er, dass man seine Art und
Weise nachahmen müsse. Es kann nicht oft ge
nug betont werden: es giebt keine Schablone in
der modernen Kunst, auch keine Schablone „der
Bizarrerie und des Unvermögens“.
MAX MOROLD.