Früher hat auch der minder Begabte doch
etwas lernen müssen. Früher konnte man auch
bei einem minder guten Bilde die Schule loben.
Jetzt ist das alles verloren gegangen, und die
Leute brüsten sich damit, ohne irgend einen Er
satz zu bieten. Wie kann nun einer, dem es mit
den modernen Bestrebungen Ernst ist, an solchen
Spässen seine Freude haben? Wie kann einer,
der den Fortschritt predigt, sich des offenkundigen
Verfalles erfreuen?“
Darauf ist nicht schwer zu antworten. Es ist
ja richtig, dass bei jeder Umwälzung in der Kunst
die minder Begabten eine Zeit lang profitieren.
Indem sie gewisse Aeusserlichkeiten der neuen
Richtung zu ihrem „Stil“ machen, vermögen sie
zum mindesten die allgemeine Aufmerksamkeit
auf sich zu lenken und können vielleicht sogar
ein Lob ernten, das ihnen sonst nie zu teil würde.
Besteht die neue Richtung vollends darin, dass alle
Stoffe und Darstellungsformen freigegeben sind,
dass keinem der Weg vorgeschrieben ist, auf dem
er wandeln soll, so hat es schliesslich auch der
Stümper leicht, für seine mit irgend einem „origi
nellen“ Zug ausgestalteten Produkte und selbst
für die abenteuerlichsten Geburten immer noch
eine Art Existenzberechtigung in Anspruch zu
nehmen.
Besonders solange das Urteil über die neue
Richtung noch nicht geklärt ist, solange das Für
und Wider, der Jubel und die Entrüstung noch
hin und her wogen. Da kann wohl Einer in
thörichter Verblendung oder auch mit bewusstem
Hohne der Menge Zurufen: „Ihr versteht mich
halt noch nicht! Aber passt nur auf! Ich bin
das Genie der Zukunft.“ Und wenn's die Menge
nicht glaubt — manche werden es glauben. Ein
Narr macht zehn.
Doch ich wüsste nicht, was das schaden soll.
Vor allem heisst es, vorsichtig sein. In einer
Zeit, in der der Stümper so leicht Aufsehen er
regt, wird auch das wahre Genie leicht für einen
Stümper gehalten. So wie es Böcklin und Thoma
ergangen ist, so kann es heute oder morgen auch
einem neuen Meister ergehen, dessen Art sich zu
sehr von der gestrigen unterscheidet, um gleich
völlig begriffen zu werden. So oft wir etwas
seltsam und wunderlich finden, müssen wir uns
immer fragen, ob es an sich wunderlich ist oder
ob nur wir uns noch wundern. Und diejenigen,
welche ihre Freude daran haben, sind vielleicht
Narren oder Fexen, vielleicht aber auch die ersten
Jünger eines neuen Evangeliums. Auch das Genie
macht im Anfänge nur zehn — nicht Genies,
sondern Vorkämpfer und Mitstreiter. Aus den
zehn werden hundert, werden tausend, und zu
letzt huldigt ihm die ganze Welt. Man sei daher
vorsichtig. Wenn es uns recht vor den Augen
flimmert bei einer secessionistischen Veranstaltung,
wenn uns nicht nur alle Schönheitsbegriffe, son
dern womöglich alle Raumbegriffe und alle op
tischen Gesetze aufgehoben erscheinen — wer
weiss! Vielleicht ist das die neue Renaissance.
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