der Striche, Schatten und Lichter das Dauernde,
das hinter dem Kleinsten auch liegt, wenn die
Kunst es leitet, holen.
Ich will mir da mit Goethe helfen. „Das
Schlimmste aber ist”, sagt er einmal, „dass alles
Denken zum Denken nichts hilft; man muss von
Natur richtig sein, so dass die guten Einfälle immer
wie freie Kinder Gottes vor uns dastehen und uns
Zurufen: „Da sind wir!” — Die graphische Kunst
hat dieses „Da sind wir” in allen Stücken gepflegt
und darin ist sie die Vorläuferin und das Vorbild
moderner Malerei geworden.
Es ist ja auch keine Kunst geeigneter die
dunkle Kraft des Lebens und seine flüchtigen
Schatten der Handlungen in ihre Aeusserungen
aufzunehmen, die von Natur aus veranlagt sind,
jedes Ding präcis zu charakterisieren. Sie kann
festhalten durch die Schärfe des Striches und durch
eine gewisse Symbolik desselben, die gleich wie
das Schicksal wirkt. Man braucht da bloss Büschs
humoristische Zeichnungen anzusehen, wo da ein
Strich mehr Eindruck macht, als wenn an seiner
Stelle viele wären. Auch das, dass das Graphische
sich noch immer nicht recht in die Farbe finden
kann, wenn auch manche treffliche Versuche schon
bestehen, hat viel Bedeutung an sich. Es mag
einerseits der Grund sein, dass das Publicum so
wenig Sympathie für diese Kunst gewinnen konnte,
weil zwischen ihren zwei Grundtönen so viele
liegen können, die vermitteln und trösten, aber
die gerade fehlen. Anderseits wirkt indessen wieder
in dieser Kargheit eine mächtige Suggestion, die
das arme und elende Leben deutlich macht, das
so wenig an Köstlichkeiten der Farbe hat und
wo alle Dinge durch die Nacht des Gestern
verlebt, grau und wie vom Tod berührt aus-
sehen. Diese natürlichen Wirkungen sind ein
Zeichen, auf welch' einem realen Boden das Gra
phische steht und immer gestanden ist. Immer
schuf diese Kunst lebendig und es ist kein Wunder,
dass sie ebendadurch national schuf. Indem sie
immer nur aus dem nächsten Leben schöpfte,
wurden Hogarths Werke so sehr englisch und die
Goyas spanisch und könnten auf keinem anderen
Boden entstanden sein. Internationales ist in ihrem
Wesen viel weniger gelegen als in dem der Malerei.
Dieser Duft von Nationalität schafft dem Gra
phischen jetzt manche Gönner. Namentlich in
Frankreich, wo vor einiger Zeit die Centenarfeier
der Lithographie zu Paris abgehalten ward, erlebte
dadurch Raffet, der Menzel des grossen Napoleon,
seine Auferstehung. Nichtsdestoweniger wäre an
diesen historischen Uebungen weniger gelegen,
wenn sie nicht dieses Leben hätten. Es sind
Soldaten, es ist der Krieg, und wenn man das
sieht, versteht man Napoleon. Wo hat man damals
ähnlicheres gesehen? Wenn David die Revolution
malte und man hätte seinen Menschen die Kleider
genommen, so hätte man griechische Gestalten
erblickt, moderne Menschen niemals.
Während die Malerei sich in den Aeffereien
eines verflossenen Stils gefiel, in „Gedanken über
die Nachahmung der griechischen Werke” medi
tierte, bis sie darüber einschlief, hatte sich die
Graphik, selbstverständlich als rein producierende
Kunst, gänzlich in ihrem ursprünglichen Zweck er-
CARL MOLL
WIEN O M
= IN DER
KIRCHE =