MAK
SACRUM. 
Es ist, als ob man sagte: Die Sonne ist das, welches 
Früchte reift, Wiesen wärmt und Wäsche trocknet. Man 
vergisst, dass dieses letztere jeder Ofen vermag. 
Wenngleich wir Modernen am weitesten entfernt sind 
von der Möglichkeit, anderen oder auch nur uns selbst 
durch Definitionen zu helfen, haben wir doch vielleicht 
vor den Gelehrten die Unbefangenheit und Aufrichtigkeit 
und eine leise Erinnerung aus Schaffensstunden voraus, 
welche unseren Worten in Wärme ersetzt, was ihnen an 
historischer Würde und Gewissenhaftigkeit fehlt. Die Kunst 
stellt sich dar als eine Lebensauffassung, wie etwa die 
Religion und die Wissenschaft und der Socialismus auch. 
Sie unterscheidet sich von den anderen Auffassungen nur 
dadurch, dass sie nicht aus der Zeit resultiert und gleichsam 
als die Weltanschauung des letzten Zieles erscheint. In 
einer graphischen Darstellung, bei welcher die einzelnen 
Lebensmeinungen als Linien in die ebene Zukunft fort 
geführt würden, wäre sie die längste Linie, vielleicht das 
Stück einer Kreisperipherie, das sich als Gerade darstellt, 
weil der Radius unendlich ist. 
Wenn ihr einmal die Welt unter den Füssen zerbricht, 
bleibt sie als das Schöpferische unabhängig bestehen und ist 
die sinnende Möglichkeit neuer Welten und Zeiten. 
Deshalb ist auch der, welcher sie zu seiner Lebens 
anschauung macht, der Künstler, der Mensch des letzten 
Zieles, der jung durch die Jahrhunderte geht, mit keiner 
Vergangenheit hinter sich. Die anderen kommen und gehen, 
er dauert. Die anderen haben Gott hinter sich wie eine 
Erinnerung. Dem Schaffenden ist Gott die letzte, tiefste Er 
füllung. Und wenn die Frommen sagen: „Er ist“, und die 
Traurigen fühlen: „Er war“, so lächelt der Künstler: „Er 
wird sein“. Und sein Glauben ist mehr als Glauben; denn 
er selbst baut an diesem Gott. Mit jedem Schauen, mit 
jedem Erkennen, in jeder seiner leisen Freuden fügt er ihm 
eine Macht und einen Namen zu, damit der Gott endlich 
in einem späten Urenkel sich vollende, mit allen Mächten 
und allen Namen geschmückt. 
Das ist die Pflicht des Künstlers. 
Weil er sie aber als Einsamer mitten im Heute wirkt, 
so stossen seine Hände da und dort an die Zeit. Nicht, 
dass sie das Feindliche wäre. Aber sie ist das Zögernde, 
Zweifelnde, Misstrauische. Sie ist der Widerstand. Und 
erst aus diesem Zwiespalt zwischen der gegenwärtigen 
Strömung und der zeitfremden Lebensmeinung des Künst 
lers entsteht eine Reihe kleiner Befreiungen, wird des 
Künstlers sichtbare That: das Kunstwerk Nicht aus seiner 
naiven Neigung heraus. Es ist immer eine Antwort auf 
ein Heute. . 
Das Kunstwerk möchte man also erklären: als ein 
tiefinneres Geständnis, das unter dem Vorwand einer Er 
innerung, einer Erfahrung oder eines Ereignisses sich aus- 
gibt und, losgelöst von seinem Urhebet, allein bestehen kann* 
Diese Selbständigkeit des Kunstwerkes ist die Schön- 
heit. Mit jedem Kunstwerke kommt ein Neues, ein Ding 
mehr in die Welt. 
Man wird finden, dass in dieser Definition alles Raum 
hat: von den gothischen Domen des Jehan de Beauce bis 
zu einem Möbel des jungen van der Velde. — 
Die Kunsterklärungen, welche die WIRKUNG zur 
Grundlage nehmen, umfassen viel mehr. Sie müssen in 
ihren Consequenzen auch nothwendig den Fehler begehen, 
statt von der Schönheit vom Geschmack, d. h. statt von 
Gott vom Gebete zu reden. Und so werden sie ungläubig 
und verwirren sich immer mehr. 
Wir müssen es aussprechen, dass das Wesen der 
Schönheit nicht im Wirken liegt, sondern im Sein. Es 
müssten sonst Blumenausstellungen und Parkanlagen 
schöner sein als ein wilder Garten, der vor sich hinblüht 
irgendwo und von dem Keiner weiss. 
RAINER MARIA RILKE. 
Alfred Roller. 
Entwurf zu e. 
Fahrradplacat.
	        
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