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BAU- UND WOHNUNGSKUNST
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Zunächst werden wir ja, wenn wir unsere Zeit-
geschehnisse ins Auge fassen, ganz von selbst dazu
gedrängt, unseren Blick vergleichend um genau siebzig
Jahre zurückzuwerfen, auf das Jahr 1848. Welche
frappante Ähnlichkeit und doch zugleich welcher
Unterschied! Damals: ein siegreicher, an den heu
tigen Verhältnissen gemessen, recht harmloser Feld
zug hinter uns — und eine blutige Revolution um
uns; heute ein unglück
licher Feldzug von ge
waltigster Größe hinter
uns — und eine fast
unblutige Revolution
rings umuns. Daß diese
Übereinstimmung und
zugleich Verschieden
heit in den politischen
Geschehnissen von
einst und jetzt auch
gewisse Übereinstim
mungen und Verschie
denheiten in ihren Ein
flüssen auf die Kultur
fragen — und wir den
ken hier lediglich an
die Frage der Bau
kunst — zeitigen müs
sen, liegt wohl auf
der Hand. Und so
gipfelte denn damals
die Wirkung des Um
sturzes fast ganz aus
schließlich in dem
Sturze des baukünst
lerischen Bureaukratis-
mus der vormärzlichen
Epoche, im Empor
kommen einer sozial
unabhängigen bau
künstlerischen Rich
tung, in der Überwin
dung des einst allmäch
tigen „Hofbaurates“
durch die Gilde der
„freischaffenden“ Ar
chitekten. Das war in
gewissem Sinne und
äußerlich genommen
recht viel; innerlich genommen aber herzlich wenig.
Denn woran es bis dahin gefehlt hatte, nicht bloß der
wohlbestallten Staatsbaukunst und ihrem höfischen
Baurat, sondern der ganzen Zeit und Generation: das
war eine festgefügte baukünstlerische und überhaupt
künstlerischlebendige Überzeugung. Ob nun die Nobile
und Sprenger oder die Müller und Van der Nüll von
damals Architektur trieben, das kam schließlich auf
ein und dasselbe hinaus: auf ein bißchen mehr klassizi
stisch oder romantisch gesinnten Eklektizismus. Und
so verlief denn die damalige Umgestaltung der zeit
genössischen Baukunst zunächst ganz oder doch in
der Hauptsache belanglos; erst jahrzehntelang später
trat — herbeigeführt durch neue Geister einer an
sich im ganzen alt gebliebenen Zeit — ein neuer
Aufschwung auf baukünstlerischem Gebiet ein, dessen
Ausläufer sich bis knapp ans Ende des 19. Jahr
hunderts erstreckten. Wieviel an dieser unmittel
baren Ergebnislosigkeit, an dieser künstlerischen
Verpuffung einer scheinbar in großem Stile ein
setzenden politischen Neugeburt die dieser alsbald
folgende Reaktion Schuld trug, wieviel auf Rech
nung der damals herrschenden und noch recht
lange nachher andauernden inneren Ungeklärtheit
in allen baukünstlerischen Grundfragen kommt,
mag dahingestellt bleiben. Sicher ist, daß das
Jahr 1848 keineswegs das Geburtsjahr einer neuen
Blüte in der Baukunst bedeutet hat.
Anders heute. Un
sere heutige Umgestal
tung fällt in eine Zeit
epoche lebendigsten
Treibens in der Bau
kunst. Wer könnte
blind dafür geblieben
sein, daß die beiden
letzten Jahrzehnte der
Baukunst einen ganz
neuen Aufschwung ge
geben, daß aus inne
rem Antriebe heraus
sich Kräfte und Über
zeugungen in ihr fühl
bar gemacht haben,
die — soweit dies auf
dem friedlichen Gebie
te der Kunst nur im
mer möglich ist — an
sich schon revolutionä
ren Charakter trugen?
Wir in Wien haben
ja dieses Schauspiel,
diesen Krieg im Frie
den der Kunst nicht
ohne innigste Anteil
nahme miterlebt. Zu
Beginn der neunziger
Jahre hat es eingesetzt
und bis zum Anfang
des Weltkrieges hat es
uns in Atem gehalten.
Dann freilich trat es
vorübergehend gegen
die gewaltigen äuße
ren Geschehnisse in
den Hintergrund, ver
blaßte vor ihnen, wie
das milde Licht der Zi
vilisation vor dem Feuerschein des Weltbrandes ver
blaßte. Jetzt aber wird das Schauspiel wieder neu
aufleben, freilich — und das ist es, was uns wieder
den Zusammenhang zwischen Baukunst und Politik
innewerden läßt — in einigermaßen veränderter,
durch die neugewordene politische Lage von Grund
aus beeinflußter Gestalt. Auch haben wir nicht mehr
zu besorgen, daß heute so wie vor siebzig Jahren
zuletzt doch alles wieder in den Sand verlaufen und
die große Völkerbewegung unserer Tage an der
Pforte der Baukunst vergeblich branden wird.
Denn, wie ich an dieser Stelle schon früher ein
mal schreiben durfte: Wie ungleich verheißungs
voller liegen die Dinge heute, als sie vor siebzig
Jahren lagen! Heute sind die Keime eines neuen
künstlerischen Aufschwunges wirklich bereits in
den Boden versenkt gewesen, als der große Krieg
über Nacht ausbrach, ja mehr als das, sie waren
deutlich sichtbar bereits emporgesprossen. Alles
das also, was Voraussetzung ihres späteren völligen
Arch. Z. V. Professor Emst Lichtblau: Aus einem Wohnraum.
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