Es ist nun bemerkenswert, daß Ostasien in der frühen Zeit der Kunst
des Mittelmeergebietes im allgemeinen nur einzelne Motive zu geben ver-
mochte, Motive, die dann wegen ihres geheimnisvollen Reizes nachgeahmt
wurden; es ist eine Art abergläubiger Scheu und Bewunderung, die den
Primitiven zur Nachahmung ihm selbst unverständlicher Formen drängte.
Der entwickelte Naturalismus, wie er sich etwa auf dem alten Batike
zeigt, den ich auf Seite go im vorhergehenden Jahrgange dieser Zeitschrift
abgebildet habe, konnte im Mittelmeergebiet wohl nur so lange aufgenommen
werden, als das naturalistische Gefühl der Antike durch die zum Abstrakten
fortschreitende Entwicklung der spätantiken und altchristlichen Zeit noch
nicht ganz zurückgedrängt war; es ist dabei belanglos, ob der angeführte
Stoff eine ägyptische Nachahmung, ein indisches oder ostasiatisches Werk
ist, wobei übrigens in jedem Fall Indien das ursprünglich maßgebende wäre.
Erst das spätere Mittelalter ist wieder im stande, den (inzwischen übrigens
sehr vorgeschrittenen) Naturalismus des Ostens wieder aufzunehmen und
sich dadurch anregen zu lassen; die Stoffe der gotischen Zeit und - für
Italien gerechnet - auch der Vor- und F rühreuaissance stehen ja durchaus
unter dem Einflusse ostasiatischer Arbeiten. Doch genüge es, hier auf die
entsprechenden Kapitel des mehrfach angeführten Werkes? hinzuweisen.
Es möge hier nur ein Stoff wiederholt werden, der an anderer Stelle"
bereits abgebildet und erwähnt wurde, jetzt-nach sorgfältiger Reinigung -
aber besser dargestellt werden kann; man vergleiche die Abbildung auf
Seite 193.
Das allgemeine Schema der Musterung ist dasselbe wie bei den auf
Seite 629 -63I im letzten Jahrgange dieser Zeitschrift abgebildeten Stücken;
doch ist die Ausführung weit naturalistischer. Besonders auf indischen
Stoffen ist ganz ähnliches Rankenwerk heute noch eines der beliebtesten
Motive; der in der Abbildung ganz deutliche Schmetterling ist wohl auch
am besten aus der indischen oder ostasiatischen Kunst zu erklären. Übrigens
ist das Stück wohl nicht ostasiatischer Ausführung, da die broschierten hunde-
artigen Tiere, die man ganz oben - wenn auch etwas undeutlich erkennt
- nicht aus dem ostasiatischen Papiergolde, sondern aus I-Iäutchen-
golde (cyprischem Golde) hergestellt sind.""'"" Wenn man hier ostasiatischen
Einiiuß annimmt, soll damit natürlich nicht geleugnet werden, daß die späte
Antike diese Rankenornamente schon liebte; aber in die Stoffe scheinen sie
erst neuerdings wieder vom Osten her eingedrungen zu sein und das spätere
mittelalterliche Streben wurde auch in dieser Hinsicht durch den Osten
wenigstens gefördert.
In demselben Verhältnisse zum Osten mag auch das vielleicht saraze-
nische oder italienische Stück stehen, das wir auf Seite 192 abbilden. Die
Ähnlichkeit der großen rosettenartigen Kreismuster etwa mit denen des ost-
i" „Künstlerische Entwicklung der Weberei und Stickerei . . . . ", z. B. S. x24 ff, S. 14H E.
i" „Künstlerische Entwicklung der Weberei und Stickerei . . . .", Tafel 1x5 und Seite x30.
"H" Nach der chemischen und mikroskopischen Untersuchung, die Herr Ingenieur Ludwig Utz, Direktor
der k. k. Fschschule für Textilindustrie in Wien, in liebenswilrdigster Weise durchgeführt hat.