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Wilhelm von Lindheim.
von Wanderlehrern, durch Gewährung endlich von guten und zweckmäfsigen
Werkzeugen angeftrebt werden. Wenn man die primitiven Inftrumente berück-
fichtigt, welche der Ruffe noch heute zur Anfertigung feiner Arbeiten benützt,
und wenn man fich die deffenungeachtet fehr wohlfeil bemetfenenPreife derfelben
vergegenwärtigt, fo wird man allerdings eingeftehen muffen, dafs in dem Affocia-
tionswefen, wie es gegenwärtig in Rufsland befteht, der Kern zu einer höchft
lebensfähigen und gefunden Induflrie liegt. Wir wünfchen aufrichtig, dafs diefe
naturwüchfige Kraft in befter Weife zur Entwicklung komme.
Rufslands Hausinduftrie. *
I. Textilinduftrie.
Der wichtigfle und ältefte Zweig der Textilinduftrie ift die Leineninduftrie.
Die Spinnerei und Weberei des Flachfes bildet eine in Rufsland feit unvordenk
lichen Zeiten unter den Bauern jener Gegenden verbreitete Induftrie, welche fich
mit der Flachscultur befchäftigen. Das Quantum der jährlich feitens der bäuer
lichen Bevölkerung mittelft Handweberei producirten Leinwand ift ein fo bedeu
tendes, dafs dasfelbe nicht nur zur Befriedigung der häuslichen Bedürfniffe der
Producenten felbft hinreicht, fondern dafs auch für den inneren Handel jährlich
ungefähr 170 Millionen Arfchinen im Werthe von 14 Millionen Rubel erübrigen.
Der Gefammtwerth der von den Bauern verfertigten ordinären und feinen Lein
wand foll 55 Millionen betragen. Bemerkt mufs indeffen werden, dafs die Leinen
induftrie fich im Vergleiche zu ihrer früheren Bedeutung im Zuftande des Nieder
ganges befindet. Die erfte Einbufse erlitt fie durch den ungeheuren Auffchwung
der Baumwoll-Induftrie. Die Baumwoll-Krifis, welche die Entwicklung der grofsen
mit mechanifchen Webftühlen arbeitendenFlachsfpinnereien ungemein begünftigte,
verfetzte der bäuerlichen Leineninduftrie den zweiten Schlag. Von nun an fingen
die Bauern, von der Unmöglichkeit überzeugt, mit den in den Spinnereien fabri-
cirten Gefpinnften concurriren zu können, an, fich mit grofsem Eifer der Cultur
des Flachfes zu widmen, welchen fie fodann im Rohzuftande verkauften. Auf
diefe Weife nimmt die Produktion der mittelft der Hand fabricirten Leinwand
in demfelben Grade ab, in welchem die Mafchinenfpinnerei in den Fabriken an
Ausdehnung gewinnt. Das Weben der Leinwand geht im Hinblicke auf die Klein
heit der Hütten in der Regel in einer Art Atelier vor fich, welches 10 bis 15
Webftühle enthält. Die Arbeiter in diefen bäuerlichen Fabriksanlagen find faft
ausfchliefslich Männer; ein jeder derfelben zahlt dem Eigenthümer des Ateliers
2 bis 3 Rubel jährlich Im Gouvernement Koftroma haben Genoffenfchaften der
artige Etabliffements auf gemeinfchaftliche Koften errichtet. Den Centralpunkt
der ländlichen Leineninduftrie bilden die Gouvernements Jaroflaw und Koftroma.
Der hier erzeugte Flachs zeichnet fich durch feine befondere Zartheit aus und
wird zumeift zu feineren Gefpinnften verarbeitet. Als Seele diefer Induftrie
fowohl, als auch des mit ihren Produkten betriebenen Handels kann man Selo-
Welikoje im Gouvernement Jaroflaw betrachten, wo die Leineninduftrie feit den
älteften Zeiten cultivirt wird. Während indeffen bis zum Jahre 1850 die Leinwand-
Produktion in diefer Ortfchaft durchaus den Charakter einer Hausinduftrie trug
und jährlich kaum 20.000 Stück umfafste, traten umdiefeZeit, Dank der Initiative
eines fchlichten Bauern, in Selo Welikoje kleine Leinwandfabriken ins Leben,
für deren Betrieb man das Garn felbft bis aus dem Gouvernement Tula herbei
zieht. Ein Theil diefes Garnes, im ungefähren Gewichte von 30.000 Pud, wird
behufs Webens unter die Bauern von Selo Welikoje, Koftroma und Jarofslaw ver
theilt. Der gröfste Theil der in Selo Welikoje erzeugten Leinwand wird aus den
Garnen Nr. 24 bis 50 verfertigt, und hob fich die Gefammtproduktion diefer
Gegend im Jahre 1867 auf 100.000 Stück. Gemäfs der Anzahl der Hände, welche
Nach Wefchniakoff’s Notice sur l’etat adtuel de l’induftrie domeftique en Ruffie.
St. Petersbourg 1873.
Ruisland.
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ihr zu Gebote flehen, kann eine Familie täglich zwifchen 3 und 10 Pud weben, und
ein Arbeiter kann in derfelben Zeit gemäfs der Qualität der Leinwand hieraus
5 bis 10 Arfchinen verfertigen. Der Arbeitslohn für eine Arfchine fchwankt zwifchen
3 und 10 Kopeken. Die in den grofsen Dörfern erzeugte Leinwand wird bis nach
Nifchnei Nowgorod, bis Roflow und fogar bis nach St. Petersburg und Moskau
verkauft. Auch in einigen Ortfchaften der Diflricfle Roflow. Pofchekonje und
Rybinfk wird die Leinwandfabrication betrieben. Im Gouvernement Jaroflaw
bildet die Bearbeitung des Flachfes die ausfchliefsliche Befchäftigung der Bäue-
rinen während der langen Winterabende. Koftroma erzeugt zumeift Tafel- und
damascirte Leinwand. Den Mittelpunkt diefer Induflrie bildet das Dorf Witfchuk;
auch im füdlichenTheile des DiflridlesKinefchma wird diefelbe lebhaft betrieben.
In einem anderen Theile desfelben Diflridles, und befonders im Dorfe Refchma,
fowie in den Bezirken Koflroma und Nerekta find es wiederum die feinen Lein
wandarten, welche fall ausfchliefslich verfertigt werden. Leider ifl diefem Zweige
der Induflrie keine Entwicklung vergönnt. Die durch den grofsen Bedarf der in
der Nähe befindlichen Mafchinenfpinnereien herbeigeführte Erhöhung der Flachs-
preife drückt um fo empfindlicher auf die Hausinduflrie, als die Erzeugniffe diefer
letzteren keine höheren Preife erzielen können. Die gewöhnlich nicht gebleichte
Leinwand wird per Arfchine für 18 bis 35 Kopeken verkauft. Das Dutzend Ser
vietten koflet 8 Rubel, ein Tifchtuch 85 Kopeken bis 2 f/ a und felbft 10 Rubel, je
nach der Arbeit. Die Weber, welche mit den Webketten der gefchickteflen
Arbeiter und auf Beflellung der Capitaliflen arbeiten, können wöchentlich 11/ 2 bis
2 Rubel verdienen. Erhalten fie eine Kette von 120 Arfchinen Länge und i*/ 3
Arfchinen Breite, fo kann fich ihr Verdienfl auf 2 bis 7 Rubel fleigern; für eine
Kette von Servietten in gleicher Länge und Breite beträgt derfelbe 4 Rubel,
für eine Breite von 2 Arfchinen 6 bis 7 Rubel, für 3 Arfchinen Gefpinnfl von
geringerer Güte 10 bis 11 Rubel und für die befle Qualität 12 bis 15 Rubel.
Diefe Verdienfle würden ganz annehmbare fein, wenn es den Webern nicht
häufig begegnete, dafs fie ganz ohne Arbeit blieben, indem die Fabrikanten
wegen der Entwicklung der mechanifchen Weberei fich genöthigt fehen, eine
Einfchränkung in der Vertheilung der Webketten eintreten zu laffen. Der
gewöhnliche Verdienfl eines Webers beträgt im Durchfchnitte jährlich 25 bis
30 Rubel; nur einer kleinen Anzahl Arbeiter gelingt es durch unfäglichen
Fleifs, 50 bis 60 Rubel jährlich zu verdienen; fie müffen zu diefem Behufe min-
deflens 10 Arfchinen Leinwand von geringerer Breite in einem Tage verfertigen.
Doch gibt es liur fehr wenig Arbeiter, die fich ausfchliefslich mit Weben befchäf-
tigen; nur die Bauern des Dorfes Apoliky find, da fie keinen Boden befitzen,
gezwungen, das ganze Jahr hindurch am Webfluhle zu arbeiten. Die Frauen und
Kinder haben an der Webe-Induflrie einen grofsen Antheil. Die Letzteren befchäf-
tigen fich mit der Abhaspelung des Garnes auf die Spulen und verdienen jährlich
10 bis 12 Rubel. Im Gouvernement Kafan flellen die Bauern nur eine halbe Million
Arfchinen zum Verkauf ; doch zeichnet fich diefe Leinwand durch ihre Weifse,
Feinheit und Dauerhaftigkeit aus. Die berühmtefleLeinwand flammt ausSukejewo
im Bezirke Tetiufch und aus Podberezje im Diflricfle Swiajfk. In den Bezirken
Kaliafm, Kafchin und Wifchnewolotofchok des Gouvernements Twer wird eben
falls fehr weifse und feine Leinwand erzeugt; doch ifl diefelbe von geringerer
Solidität. In kleinen Quantitäten wird feine Leinwand noch von den Coloniflen
in den Gouvernements Warfchau, Plockund Kalifch, fowie in den Meierhöfen der
Oflfee-Provinzen verfertigt. In den übrigen Gegenden, und vornehmlich in den der
Weichfel benachbarten herrfcht die Fabrication der ordinären Leinwand vor. Die
im Norden erzeugte Leinwand wird als die gröbfle betrachtet; die Gouvernements
Wjatka, Wologda und Olonez theilen fich in diefe Fabrication. In einigen Gou
vernements befchäftigt man fich hauptfächlich mit der Verfertigung von Säcken
befonders in jenen, wo ein lebhafterer Getreideverkehr herrfcht. Der Werth der
im GouvernementTwer verfertigten Säcke beziffert fich mit mehr als 100.000 Rubel.