Am 21. September 1958 sind seit dem Tode Karls V. 400 Jahre
verflossen.
Alle wesentlichen Probleme, die dieser letzte „europäische"
Kaiser im Verlauf einer ungeheuren Zeitenwende einst zu lösen
versuchte, stellen sich unter erhöhtem Druck, erschwerten Vor-
aussetzungen, in veränderter Gestalt und in unendlich erweiter-
tem Rahmen auch heute.
Karl V. ist 1500 geboren. Zwischen 1500 und 1558 ist die bin-
dende Form, die das Europa dcs Mittelalters gefunden hatte, die
Christenheit, zerbrochen. Alles wirkte auf dieses Ende hin zu-
sammen: neue wissenschaftliche Anschauungen, die geographi-
schen Entdeckungen, der das menschliche Sclbstbewußtscin stei-
gernde, auf antike Konzeptionen zurückgreifende Humanismus,
tiefgehende soziale und wirtschaftliche Umschichtung und über-
all das Erwachen nationaler Leidenschaften, die folgenschweren
Erfindungen, Schießpulver und Druckerschwärzc, umstürzendc
Angriffe auf die bisher geltende theologische Doktrin: Refor-
mation.
Wenn man genau hinsieht, so erkennt man wie immer, daß im
16. Jahrhundert nur deutlich und sichtbar wurde, was schon
längst sich im Vollzug befand. Im Beginn des Reformationszcit-
alters war die Säkularisation der einst numinosen Institutionen
schon weitgehend durchgeführt. Der aus einem Souveränitäts-
streit entstandene Gegensatz zwischen weltlicher und geistlicher
Herrschaft, zwischen Kaisertum und Papsttum, war nie mehr
ausgeglichen worden. Die durch die Päpste so oft im Kampf
gegen die Kaiser eingesetzten Länder, England und Frankreich,
waren bereits der mittelalterlichen Okumene sich entziehende,
starke Nationalstaaten geworden, nationale Kirchen bildeten
sich innerhalb ihres Staatsgebietes, der Ausbau eines völlig welt-
lichen Beamtenstaates im Umkreise der Kurie, die Lähmung
der Kirche bei ihren Versuchen, sich selbst zu reformieren, ste-
rile Sclbstkritik der Konzile, der Verfall des Klosterwesens, all
dies gehörte zu den entscheidenden Faktoren, durch welche die
großen Leitgedanken des Medium aevum ihren Primat ein-
büßten.
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Karl V. haben die Voraussetzungen seiner Geburt und die Zu-
fälligkeiten fürstlicher Erbfolge vor die scheinbar unlösliche
Aufgabe gestellt, in einer Zeit völliger Umwertung, den eisernen
Bestand des Nichtumwertbaren, bestimmte Grundwerte zu wah-
ren, ohne welche, bei dem ungeheuren Vorgang des allgemeinen
Auseinanderstrcbens einzelner Geister, entzweiter Gruppen,
feindlich aufeinandcrprallender Stände, ganzer Völker, ein
Kampf aller gegen alle entbrennen mußte. In den mörderischen
Religionskriegen der Franzosen und dem Dreißigjährigen Krieg
der Deutschen wurde dies zur furchtbaren Wirklichkeit.
Die innere Berufung zur Übernahme des höchsten Amtes der
damaligen Welt hat schon den 17jährigen Herzog von Burgund
erfüllt. Er glaubte an seinen Auftrag: das Kaisertum war für
ihn oberstes Schiedsamt. Der hervorragendste unter seinen Be-
ratern, Mercurino de Gattinara, einst Rechtslehrer an der Uni-
vcrsität Dole, hat Karls Anschauungen vertieft, hat sie aber
nicht geschaffen. Es scheint nicht überzeugend, wenn gesagt
wird, erst im Jahre 1528 sei bei Karl unter Gattinaras Einfluß
Sinn und Gehalt seines ungeheuren Amtes voll ins Bewußtscin
getreten. Schon 1517 wandte sich der Habsburger gegen die
Parteigänger seines Bruders Ferdinand, die ihn selbst und damit
Spanien dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation fern-
halten wollten.
Um schließlich Kaiser zu werden in dem vollen Sinn, in den
er erst nach unendlicher Erfahrung und Prüfung hineinwuehs,
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mußtc er seinen eigenen Ursprung als Urenkel Karls des Küh-
nen, als burgundiseher Ritter, in sich überwinden. Dieser Weg
zum Verzicht war lang. Fehler, die der letzte universale Kaiser
beging, beging er als burgundischer dicrritoriztlherr. Durch Jahre
fühlte er sich verpflichtet, all die Verluste, die nach Karls des
Kiihnen Tod eingetreten waren, auszugleichen, vor allem das
französische Burgund mit der Hauptstadt Dijon wiederzu-
gewinnen und das alte Reichslehen, die Erbschaft Blanca Sforzas,
der zweiten Gattin seines Großvaters, des Kaisers Maximilian,
das Herzoglum Mailand, den Franzosen wieder zu entreiflen.
Hauptsächlich diese beiden Bestrebungen haben durch jahr-
zchntc die in ihren großen Zügen von ihm immer wieder so klar
erkannte Hauptaufgabe schwer belastet.
Karl hat seinen Vater, Philipp den Schönen, früh verloren;
seiner Mutter, johanna der Wahnsinnigen, der Tochter der
katholischen Könige, wurde er bald entzogen. Er wuchs auf
unter dem Schutz und der Führung der Regt-min, der Erzherzo-
gin Margarcthe, die so viele Züge der Kaiserin Maria Theresia
besitzt. Sein verwegener, wendiger, leicht seine Ziele wechseln-
der Großvater, Kaiser Maximilian, in erster Ehe mit Karls des
Kühnen Tochter, Maria von Burgund, verheiratet, hat Karl in
seiner Kindheit und Jugend mitreißende Eindrücke vermittelt.
Karls Erzieher, seit seinem neunten Lebensjahr, Chievre aus
dem Hause Croy, hat ihm die außenpolitischen Grundregeln des
„Zwischenrciches" beigebracht; cr hat den Knaben gestiihlt im
Ertragen körperlicher Mühsal, im Beherrschen aller ritterlichen
Künste.
Mit 16 Jahren schon war Karl Herzog von Burgund und als Sohn
der Spanierin Johanna, der Tochter der katholischen Könige,
Ferdinand und Isabella, war er Herrscher der beiden vereinigten
spanischen Reiche und der Länder jenseits der Meere, vorerst
in Gemeinschaft mit seiner Mutter. Der Kastiliancr, Kardinal
jimenez de (Iisneros, der Großinquisitor, der Schrecken der
Mauren, der Sieger über die spanischen Feudalen, hat Karl
den Thron bereitet; durch Testament hatte der 1516 verstorbene
König Ferdinand ihn, seinen ersten Berater, zum Regenten be-
stimmt. jimencz hatte sich geweigert, die in Brüssel erfolgte
Proklamation von Karls Thronbesteigung auch in Spanien zu
erlassen, bevor Karl spanischen Boden würde betreten haben.
Am 19. September 1517 ist der junge Fürst nach abcnteueriicher
Reise in Villaviciosa gelandet. Am 4. November hat er seine
Mutter in Tordesillas besucht. jimdnez, der vergeblich ver-
sucht hatte, ihm zu begegnen, der von Etappe zu Etappe nach-
reiste, um ihm seinen Rat zu erteilen, seine Erfahrung zu ver-
mitteln, starb am 8. November ohne Dank. Im jänncr 1519 aber
erfolgte der Tod Kaiser Maximilians. Unter Aufwendung „ge-
waltiger Summen" mußte man nun gegen die an die Kurfürsten
gewandten französischen Wahlgclder aufkommen, die nach
Deutschland geflossen waren, um Franz I., den ewigen Gegen-
spieler Karls, auf den Thron Karls des Großcn und der Ottonen
zu führen. Aber es war Karl, der die Kaiserwürde erhielt, nach-
dem der Herzog Friedrich von Sachsen, der Weise, zu seinen
Gunsten verzichtet hatte. jakoh Fugger hat Karl damals eine
halbe Million Dukaten zur Verfügung gestellt; große Beträge
aber, Steuergelder, die zur Durchsetzung der Wahl aus Spanien
herausgezogen wurden, bildeten teilweise den Anlaß zu Re-
volten, vor allem der „Comuneros", die ausbrachcn, sobald Karl
das spanische Territorium nach kurzem Aufenthalt verlassen
hatte, um über England und Brüssel sich nach Aachen zu be-
geben, wo seine Krönung am 23. Oktober 1520 stattfand. Spanien
war für ihn vorerst noch ein fremdes Land, dessen Sprache
er nicht beherrschte; seine burgundische Umgebung verstimmte