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Die magyarischen Volksballaden und Volksromanzen unterscheiden sich vom
eigentlichen Volkslied auch darin, daß sie selten eine Singweise haben. Eine der ältesten
unter ihnen ist „Szilagyi und Hajmasi", die Ballade von zwei gefangenen edlen
Jünglingen und der Tochter des türkischen Sultans:
„Tausendfünfhundert und über siebzig als man einst schrieb,
Stellt es zusamm' ein Knab', da er saß auf Szöndörö, der Veste,
Wohl aus den Reimen von einem Poeten, gar traurig im Herzen.
Unter den siebenbürgischen Volksballaden sind die hervorragendsten „Anna
Molnär", „Frau Klemens Kömüves", Susanne Homlödi, Barcsay, Käthchen Kädar.
Die Mär von Anna Molnär, welche in mehreren Varianten bekannt ist, sei hier aus
einigen derselben zusammengestellt:
Anna Alolnär.
Volksballade.
„Komm mit mir, geh, Anna Molnär,
Sechs Steinburgen Hab' ich eigen,
Will die siebente dir zeigen."
„Kann nicht mitgehn, Martin Sajgö,
Bübchen weint mir in der Wiegen,
Waldwärts ist mein Mann gestiegen."
Dennoch lockt er sie so lange,
Bis geglückt, daß er sie fange.
Gehn jetzt, gehn ans ferner Halde,
Mitten in dem grünsten Walde:
„Anna Molnär, bist am Ziele,
Sitz' in düstern Baumes Kühle.
Gib mir deinen Schooß als Kißchen,
Schau mir in den Kopf ein bißchen."
Einschlief da mein tapfrer Herre,
Anna Molnärs Augen steigen
Zu des düstern Baumes Zweigen,
Sehn dort die sechs schönen Mädchen,
Sehn crhenkt sechs schöne Mädchen.
Da im Stillen sie bedachte:
Wenn er sie zur sieb'ten machte!
Fühlt ihr zartes Herze klopfen,
Fühlt die warmen Thränen tropfen
Aufs Gesicht des tapfern Herren.
Auf wacht da der tapfere Herre:
„Anna Molnär, warum weinst du?
Aufgeblickt zu haben scheinst du,
Blicktest auf zum düstern Wipfel,
Zu des düstern Baumes Gipfel."
„Blickte nicht, mein tapfrer Herre,
Doch vorbei drei Waisen kamen,
Seufzt' da meines Bübchens Namen,
Dachte meines biedern Gatten."
„Anna Molnär, aus nun, steige
In des düstern Baumes Zweige!"
„Nein, mein tapfrer Herr, nicht geh ich.
Bäumeklettern nicht versteh' ich,
Geh voraus mir, daß ich's lerne,
Folgen thu' ich dann dir gerne."
„Martin Sajgö steigt ganz munter;
Fällt sein scharfes Schwert herunter.
„Anna Molnär reich' mir's wieder!"
„Gleich, ja gleich, mein guter Krieger."
Und ergreift das nimmer stumpfe,
Haut des Sajgö Kopf vom Rumpfe.
Zog dann an das Kleid des Todten,
Ganz und gar von Tuch, von rothem,
Warf sich auf das schnelle Rößlein,
Zu des biedern Gatten Schlößlein
Ritt sie heim, so rasch es mochte,
Bald am Thore dort sie pochte:
„Schläfst du Wohl, du Wirth, du biedrer?"