Es gibt schließlich nicht nur Leute, die bei der liin-
richtung ihrer Wohnung bei Null beginnen, sondern zum
Glück auch eine Vielzahl solcher, denen es vergönnt war.
llrerbtes über die Erschütterungen der jüngsten Vergan-
genheit herübcrzurctten. lst es nicht erstaunlich, daß
nur selten Wohnungen gezeigt werden, bei denen diese
Voraussetzung zutrifft? Man sollte erwarten, daß e ide
in einem solchen Falle die Gewähr gegeben ist, vit ltige
Anregungen dalür zu gewinnen, wie eine zeitgemaßt-
[mweltgestaltung mit individuellen Mitteln zu erreichen
sei.
ln dieser XVohnung lebt eine Familie, eingefügt in den
Ablauf der Generationen. Davon legen in erster Linie
die Bilder Zeugnis ab, Olgemäldc, Aquarelle und Mi-
niaturen, in überwiegender Mehrzahl liamilienport s,
die aus den letzten zweihundert Jahren, hauptsiichliclt
tiber aus dem I9. Jahrhundert stammen. Eine Vielzahl
menschlicher Beziehungen ist hier dokumentiert. Aber
es geht dabei um viel mehr, als um dic bloße Dokumen-
tation yenealogischer Fakten und historischer läczüge,
mehr als um den ästhetischen Genuß eines Kunstwerkcs.
Wer mit dem Hausherrn vor die Bilder tritt und sich von
ihm die Namen der Dargestellten nennen läißt, der
winnt sehr bald dcn Eindruck, daß lür ihn diese Männer
und Frauen keine Vergangenheit sind. liin seltenes Phä-
nomen in unscrcr Zeit. dic doch nur das Heute und das
Modische akzeptiert. llier aber leben Nlcnschcn, die mit
der Vergangenheit intensiven Umgang pflegen. Anders
als der Historiker oder der Sammler, - die bcidc nie-
mals mit der Vergangenheit so aul Du und Du sind.
Denn hier steht die menschliche Verbundenheit im Vor-
dergrund und dic Vergangenheit wirkt in der Person des
nahen Verwandten in die Gegenwart herein.
Bei den verwendeten Möbeln ist keinerlei Bevorzugung
irgendwelcher Stile festzustellen, „weil es heute zum guten
Ton gehört", Mobiliar aus dieser oder jener Epoche um
sich zu haben. Wir konnten es doch alle schon im Ver-
laul der Jahre selbst crlahren, wic rasch die Schlagworte
verblassen und die Meinungen sich ändern, Stile, die vor
gar nicht langer Zeit als undiskutabel rundweg abgelehnt
wurden, die Sechzigcr- und Siebzigerjahre des 1'). Jahr-
hunderts und die Kunst der Jahrhundertwende, der Ju-
gendstil, sind heute wieder zu hohen Lihren gekommen.
Mobiliar und „kunstindustriellß Erzeugnisse des zweiten
Kaiscrreiches gelten in Frankreich bereits als beliebte
Dckorationsstüeke und Sammelobjekle, während der ju-
gcndstil sogar Anlaß großer Ausstellungen geworden ist
und von den Fachleuten wiedercntdeckl und intensiv
studiert wird.
Hier sind Kunstgegenstände aus dem Barock, Klassizis-
mus, limpire, Biedermeier und dem späteren 19. jahr-
hundcrt bis zu zeitgenössischen Möbeln eine gute Ge-
meinschaft eingegangen. Das Geheimnis dieser ltarmo-
nisehen Symbiose liegt darin begründet, daß alle Dinge,
auch wenn sie aus verschiedenen Zeiten stammen. von
gleich hoher Qualität sind. Allen ist gemeinsam, daß bei
gediegener, in manchen Fallen sogar vollendeter hand-
werklicher Ausführung und bei bester, dem jeweiligen
Stil entsprechender Formgebung jede Übertreibung, jede
exzentrische Note vermieden ist. Zurückhaltung iäßt
keinen Mißton aufkommen. jedes Ding, ob Bild, ob
Möbel ist so angeordnet, daß es möglichst wirkungsvoll
zur Geltung kommt. Kein Cvcgenstixnd hat seinen Platz
unmotiviert erhalten und darum wirkt nichts „ge-
stellt".
Die wohltemperiertc Atmosphäre und die gastliche Ge-
bärde dieser Wohnung, lädt jeden, der sie betritt, zum
Verweilen und zu genußvollem Schauen ein.
12