ln einer österreichischen Privat-
sammlung befindet sich ein Selbst-
bildnis Van Goghs, das bis jetzt
nur einer kleinen Anzahl von
Personen bekannt war und nun
hier mit freundlicher Erlaubnis
des Eigentümers veröffentlicht
wird (Abb. 1).
Das lebensgruße Brustbild im
Format 46:38 cm ist auf eine
Leinwand mit dem Firmenstempel
„Ruy Perrod, Paris" gemalt. Diese
Leinwand wie auch die Farb-
schicht sind nicht in tadellosem
Zustand, ein Riß, ein wenig
rechts von der Bildmitte, ist aus-
gebessert, doch sind abgesehen
davon keine störenden Über-
malungen festzustellen. Der Farb-
auftrag ist energisch und grob,
fast durchwegs sehr pastos. Die
Gesichtsfarbe ist ein ziemlich
dunkler Fleischton, kräftig ist
auch die Haarfarbe, es ist die
eines ausgeprägt Rothaarigen. Der
Hemdausschnitt ist in trübem
Weiß gemalt, Rock und Hinter-
grund sind in der Gesamtwirkung
schwarzblau. Über die Herkunft
des Bildes ist nur wenig bekannt I),
doch spricht für die Überliefe-
rung, daß es sich um ein Selbst-
porträt Van Goghs handelt, der
künstlerische Sachverhalt ebenso
wie die Physiognomie des Dar-
gestellten. ln beiderlei Hinsicht
fügt sich das Porträt in die Reihe
der Selbstbildnisse des Malers
aus seiner Pariser Periode, 1886 bis
1887, ein. Nur diese Periode, und
zwar eher das erste der zwei Jahre
seines Pariser Aufenthaltes, kann
als Entstehungszeit in Betracht
gezogen werden. Zvveiundzwanzig
von den rund dreißig erhaltenen
Selbstbildnissen Van Goghs sind
zum Teil nachweislich, zum übri-
gen Teil nach übereinstimmender
Annahme in den Pariser Jahren
entstanden. ln diesen Selbstpor-
träts spiegelt sich in einer mitunter
krassen Weise die Unausgeglichen-
heit einer Übergangsperiode inner-
halb des rasenden Entwicklungs-
ablaufes der Kunst Van Goghs.
Das gilt für jeden der zwei er-
wähnten Aspekte.
Was das Physiognomische be-
trifft, so fallt in den Selbstbild-
nissen ein merkwürdiger Wechsel
allein schon im anatomischen
Typus auf. Einige der Selbst-
bildnisse zeigen ein schmales,
langes Gesicht, das an die wenigen
der Pariser Epoche vorangehen-
den Selbstbildnisse aus der Zeit
des Aufenthaltes in Antwerpen
7
erinnert (Antwerpen: H. 186, 188,
2242); Paris: H. 411, 414, 417,
419), die anderen, die weitaus in
der Mehrzahl sind, haben eine
breitere, dreieckige Gesichtsform,
mit abfallendem Kinn und zu-
meist stark vortretenden Backen-
knochen. Es ist dies derjenige
physiognomische Typus innerhalb
der Reihe der Selbstbildnisse, der
allgemein unsere Vorstellung vom
Aussehen Van Goghs bestimmt,
und zwar vor allem deshalb, weil
einige der bedeutendsten und be-
rühmtesten Selbstbildnisse der
späteren Schaffenszeit diesen Ty-
pus zeigen, wie das mit der
Widmung an Gauguin (H. 505),
die beiden Bilder mit der Pelz-
mütze und dem verbundenen Ohr
(H. 547, Xll; Abb. 4) und das
letzte Selbstporträt (H. 748).
Ein fast allen Selbstbildnissen Van
Goghs gemeinsames physiogno-
misches Merkmal ist ein bohren-
der Blick, der unter stark vor-
tretenden Brauenwülsten hervor
zumeist auf den Beschauer ge-
richtet ist. Dieser Blick, zusammen
mit den fast immer verhärmten
Gesichtszügen und der betont
einfachen, ungepflegten Kleidung,
bestimmt das Gesamtbild des
Seelenzustandes, den Van Gogh
in seinen Selbstbildnissen in ab-
sichtsvoll unterstrichener Weise
wiedergegeben hat. Kaum jemals
fmdet sich in der langen Reihe
dieser Selbstdarstellungen die Ten-
denz einer objektiv nüchternen
Feststellung des äußeren physio-
gnomischen Sachverhalts-l), um-
gekehrt aber in den späteren
Selbstbildnissen, aus Arles und
Saint-Remy, die Steigerung in die
Dimensionen des Tragischen und
Dramatischen, ja des Schreckhaft-
Unheimlichen, wie in den früher
schon erwähnten Werken, dem
Selbstbildnis mit der Pelzmütze in
der Sammlung Leigh B. Block in
Chicago (Abb. 4) und dem mit
derWidmunganGauguinOl.505).
Die subjektiv freieste Farbenwahl,
die es in der Kunst Van Goghs
überhaupt gibt, ist in dem Selbst-
bildnis mit der Pelzmütze an-
gewendet, und in dem andern
Bild verblüfft die bizarre Eigen-
willigkeit der „japanischem Au-
gen 4). Trotzdem herrscht in die-
sen Bildern auch eine höhere Ob-
jektivität, mit der ein allge-
meines Merkmal der Griiße der
Kunst Van Goghs das in
heklemmender Nahsicht nieder-
geschriebene subjektive lirlebnis
ins Überpersünliche gehoben ist.
liiner der Wege, die dahin führ-
ten, daß diese späten Selbst-
porträts zu den einsam dastehen-
den Monumenten tragischen
Künstlerschicksals und zu Bildern
der Lebensqual wurden, war die
Härte des Malers gegen sich
selbst, der den zerstörenden Kraf-
ten Anspannung und krampfhaf-
ten Optimismus entgegensetzte.
lirst in dem letzten der in Paris
entstandenen Selbstbildnisse, dem
mit der Staffelei (H. 425), ist
dieser Weg in einer die gesamte
Bildgestalt erfassenden Weise be-
schritten, denn erst damals hatte
Van Gogh seine eigene Form in
Malerei und Zeichnung ganz ge-
funden. ln den vorher gemalten
Selbsthildnissen der Pariser Pe-
riode aber ist bereits manches
davon in einzelnen Zügen und in
verschiedenen Abstufungen we-
nigstens im Bereich des Physio-
gnomischen, Psychischen zu er-
kennen. ln dem hier veröHent-
lichten Bild (Abb. 1) ist davon
sogar verhältnismäßig viel ent-
halten, mehr als in manchen
anderen dieser Gruppe. Besonders
stark ist in diesem in die Enge und
Finsternis des Bildraumes
gezwängten Kopf der Ausdruck
düsteren Ernstes und angespann-
ter Energie.
Nun zu der Darstellungsweise,
der malerischen (iestalttmgsform.
Ausnahmslos in allen Pariser
Selhstbildnissen geht es in irgend-
einer XVeise um die Aneignung
der pointillistischen Malweise und
der dazugehörigen Farbigkeit. lis
sind aber nicht allein die sehr
verschiedenen Grade und Spiel-
arten dieses Systems, die in dieser
ßilderreihe fortwährend wechseln,
zwischen stark graphisch beton-
ten, langgezogenen Pinselstrichen
und einer ausgeprägter homoge-
nen Füllung der Bildfläche mit
kleinen Flecken, also einem deut-
licher methodischen, eigentlichen
Pointillismus. Wesentlicher in Hin-
blick auf das Gesamtbild dieser
Reihe von Selbstbildnissen und
ihre Rolle in der Entwicklung
der Form Van Goghs ist das
Schwanken in der Beziehung die-
ser Struktur der kleinen Bild-
elemente zu den größeren Ein-
heiten, das heißt zu den plastischen
Formen des Kopfes und der damit
zusammenhängenden Darstellung
der Beleuchtung. Das mehr oder
weniger bewußte Ziel war eine
das
ein-
bruchlose Geschlossenheit,
1 Van 00,11.,
Um 1886.
Priv' mnunlung