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Volltext: Alte und Moderne Kunst VIII (1963 / Heft 70)

Schema der ganzen Bewegung hat die Form des hebräischen Buch- 
stabens „Alef", der nach der damals eifrig von den Humanisten 
studierten Kabbalah bedeutet: Wie es oben ist, so ist es auch unten, 
und wie es unten ist, so ist es auch oben. lm gegebenen Zusammen? 
bang heißt das die Verwirklichung des (iottesgesetzes auf Erden durch 
den Starken Engel den „Letzten Herrscher". Die Caesaristen unter 
den monarchistischen (Ihiliasten glaubten, daß dies ein bereits regieren- 
der Kaiser sein würde, die Papisten unter ihnen wollten den „Engels- 
papst" als llerrscher haben, die (Iaesaropapisten den Papst und Kaiser 
in einer Person. Wichtig für unsere Analyse ist lediglich nur die humav 
nistischc und zugleich antipäpstliche Linie, die alle Hoffnungen auf 
das erneuerte römische Kaiserreich setzte. Verfolgen wir nun in groben 
Umrissen die Entwicklung der Prophezeiung über den Starken Engel, 
den Letzten Herrscher, wie sie der Rücksicht auf die neuen, hoffnungs- 
vollen Anwärter angepaßt wurde. Manchmal nannte man gerade im 
Gegenteil einen schon lange vorher verstorbenen Herrscher, weil man 
das optimistische Vorhaben jener Kommentatoren der Apokalypse, 
die das tausendjährige Reich in der Zukunft und es nicht nur in der 
Geschichte der Christenheit erblickten, diskreditieren wollte. Gegen 
die kühnen Hoffnungen auf eine Umgestaltung der Welt im Sinne 
der apokalyptischen Weissagungen traten stets die Verteidiger der 
alten Ordnung auf. Dabei bedienten sie sich einer Erläuterung, die 
(dem heiligen Augustinus zufolge) diese Prophezeiung auf die Herr- 
schaft der Päpste bezog, und zwar seit jener Zeit, als die Kirche ihren 
illegalen Charakter verloren hatte und eine Stütze der Staatsmacht 
geworden war. Ein solcher Zerstörer der Illusionen war der Kirchenw 
apoltxget Alexander blinorita von Bremen um 1250. Zuerst teilt er 
die Bedeutung des Starken Engels unter die byzantinischen Kaiser 
Justinus l. und Justinian I. auf. Dann kehrt er noch einige Male zu 
dieser Stelle der Apokalypse zurück, um darin den Abt Benedikt 
und andere Brüder der Kirchenorganisation charakterisiert zu finden. 
Über Justinus und Justinian spricht er ihrer Verdienste um die Lehre 
und Verfassung der Kirche wegen und auch wegen der durch sie 
erfolgten Rückeroberung der afrikanischen Provinzen. Kaiser Justinian 
wurde zum Gottesdiener, weil er viele gute Einrichtungen gegründet 
und nach dem „oficnen Buch des Justinus" gelehrt hatte. So erklärt 
Alexander Minorita das Bild der Hand, die Johannes das Buch reicht. 
Die Kirche, hier vom heiligen Johannes vertreten (Ioannes hic stat 
pro ecclesia), hat das Buch aus der Hand des Justinian empfangen. 
Damit wollte man sagen, daß ein großer Kaiser der Kirche eine richtige 
Verfassung geben würde, wie es der Chiliasmus immer von neuen und 
abermals neuen Nachfolgern des Justinian erwartete5). 
Die Prophezeiung vom Letzten Herrscher, der die Christenheit retten 
werde, wurde im hohen Mittelalter unter anderem durch die gefälschte, 
lateinisch geschriebene Prophezeiung des Abtes Joachim über das 
Königreich Böhmen bekannt. Dieses Literaturdenkmal, das mit einer 
Analyse von Ruth Kestenberg-(iladstein veröffentlicht wurde, enthält 
in erlesener humanistiseher Form charakteristische Zeichen der Tradi- 
tion des Starken Engels 7 des Letzten Herrschers. Es sagt einen brül- 
lenden Löwen mit zwei Schwänzen voraus, der in den deutschen 
Landen zur Zeit kommen wird. Die Prophezeiung betriHt die uns 
schon bekannte Stelle der Apokalypse, wo der Starke Engel wie ein 
Löwe brüllt, und meint konkret den böhmischen König Primislaus 
Ottokar Il., der den Löwen in das böhmische Wappen eingeführt 
hatte. ()ttokar, dieser wilde Löwenmensch, „homo ferus et leoninus", 
soll seine Herrschaft bis zum Atlriatischen Meer ausbreiten, das Morgen- 
land steuerpflichtig machen, den Schiffen freie Durchfahrt durch die 
Gewässer sichern (passagium faceret navibus) und die Barke des heiligen 
Petrus so bedrohen, daß sie beinahe versinkt. Er wird also zur Hoffnung 
Deutschlands, er wird die Nationen zähmen und „die Gipfel" ebnen, 
was wohl die Beschränkung der Macht der Feudalherren zugunsten 
des Alleinherrschers bedeutet. Er soll den Norden und Süden, den 
Osten und Westen, die ganze Christenheit einigen, auf daß es fürderhin 
nur „einen Hirten und einen Schafstall" gehe, er soll durch einen erfolg- 
reichen Kreuzzug das lleilige Land befreien und die Welt des Islam 
erobern. [ir wird 91 Jahre lang leben, und sein Grab wird im Heiligen 
Lande liegen. Diese Prophezeiung war auch Dürer, wie wir später 
nachweisen werden, noch bekannt. Nachdem König Ottokar auf dem 
Schlachtfeld gefallen war und die Erwartung sich nicht erfüllte, wurde 
die Prophezeiung auf andere hoffnungsvolle Herrscher übertragen. 
Darunter finden wir Heinrich Vll. von Luxemburg, an den sich Dante 
 
.1 Maximilian und Maria von Burgund. italienischt-i- Muuu-t, um 14:10. Burg Bouzuv u. Mährcn: 
Tclnpcta auf Holz 
wandte, und seinen Enkel Karl lV., auf den Petrarca und Cola di 
Rienzo ihre Hoffnungen setzten. Zur Zeit Karls IV. tauchten vielfach 
dem Kaiser und dem Papst unterschobene Streitverse auf, in denen 
die Frage gestellt wurde, wer das Haupt der Christenheit sein wird 
und ob es dem Kaiser gelingen würde, die Barke des heiligen Petrus 
zu bedrohen ß), damit es fürderhin nur „unum pastorem et unum 
ovile" gebe. (iegen Ende des 15. Jahrhunderts, zur Zeit des Erscheinens 
der Dürefschen Apokalypse, wurde Maximilian I. von Habsburg zum 
letzten großen Favoriten des Chiliasmus. Die günstigen Umstände am 
Anfang seiner Regierung verliehen ihm den Anschein eines außer- 
ordentlich begabten Herrschers, Beschützers der Kultur, Freundes des 
Bürgerstandes und Reformators der Verfassung. Liin Vergleich des 
Antlitzes des Starken Engels in der Dürefschen Illustration mit dem 
posthumen Kupferstichporträt Maximilians I. von der Hand des Lucas 
von Leyden und mit den bekannten Bildnissen des Kaisers aus Dürers 
graphischer Werkstatt beweist, daß es sich tatsächlich um diesen 
Herrscher handelt. Auch andere haben das Antlitz des Starken Engels, 
dessen Kopf von Thausing als „melancholisch" charakterisiert wird, 
wegen seines besonderen Ausdrucks ihrer Aufmerksamkeit für würdig 
befunden. Maximilian war bekannt als „MelancholikerT In der Apo- 
kalypse wollte Dürer diesen Maximilian, dem er später treu dienen 
sollte, verherrlichen 7). Beim Vergleich dieses wahrscheinlich imaginären 
Porträts mit dem späteren, schon von Dürer nach dem lebenden 
Modell gemalten Renaissancebildnis Maximilians I. müssen wir den 
zeitlichen Unterschied und die Möglichkeit, diesen Herrscher zu 
porträtieren, in Betracht ziehen. (Maximilian fuhr oft durch Nürnberg; 
als Vorbild konnte Dürer zwar ein anderes uns unbekanntes Bildnis 
dienen, kaum konnte er aber Maximilian unmittelbar porträtieren, 
wie es später „oben auf der Pfalz in seinem kleinen Stübli" ge- 
schah.) Vergleichsmöglichkeiten bietet auch das italianisierende Doppel- 
porträt Maximilians und der Maria von Burgund, das sich gegenwärtig 
auf der Burg Bouzov bei Olmütz befindet. 
Die Allegorie des Sonnenherrschers Maximilian auf Blatt Vlll der 
Apokalypse Dürers hat ihre Vor- und Nachgeschichte in der bildenden 
Kunst. Das Prinzip 7 zwei XWeltsätilen, die eine Weltsonne stützen 7 
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