J. V. G. ÄIallet
EINE WIENER PORZEL-
LANKANNE DES ROKOKO
NACH DEM VORBILD
EINES ROMANISCHEN
AQUAMANILEX
Ein vogelähnliches Porzellangefäß, das kürz-
lich vom Victoria 8a Albert Museum erworben
Wurdel, ist wohl eines der seltsamsten und
zugleich unpraktischesten Objekte, das je ent-
worfen und ausgeführt wurde (Abb. 1, 5 und 6).
Vermutlich war es als Schokolade- oder Kaffee-
kanne gedacht, der Deckelkopf stürzt aber
schon bei einer Neigung um 40 Grad nach vorne.
Erstaunlicherweise sind jedoch von diesem
schlecht konstruierten Deckelkopf in zwei-
hundert Jahren nur ein oder zwei Stückchen
abgebrochen. Daß dieses Gefaß überhaupt
erhalten geblieben ist, verdankt es wohl einem
Produktionsfehler, denn der Rumpf weist
einen starken Brandriß auf und muß von
Anfang an leck gewesen sein; ein solches
Stück konnte daher sicher nie verwendet
werden. Wenn wir die Kanne jedoch mehr als
Skulptur und weniger als Gebrauchsgegen-
stand betrachten, dann ist dieser stilisierte Adler
oder Greif in seiner klaren Form mit dem
räuberischen Schnabel sehr eindrucksvoll.
Das historische Milieu, aus dem das Stück
stammt, kann genau bestimmt werden: die
Kanne wurde in Wien zwischen 1744 und
1749 hergestellt, wie die beiden unter den
14
Fiißen eingepreßten Bindenschilde beweisenl.
Die Frage nach dem Ursprung und dem Vor-
bild seiner merkwürdigen Form ist rasch
beantwortet: sie geht mit geringfügigen Än-
derungen auf ein prachtvolles mosanes Aqua-
manile der Romanik zurück, das sich heute
noch in Wien befindet (Abb. 2).
Das originale Aquamanile aus vergoldeter
Bronze ist mit Silber- und Niello-Ornamenten
reich verziert. Die heutige Forschung be-
zeichnet es als lothringische Arbeit aus der
Mitte oder zweiten Hälfte des 12. Jahrhun-
derts3 und sieht es zusammen mit einem
vergleichbaren Drachenaquamanile im Vic-
toria 8c Albert Museum4 als die schönste
erhaltene Arbeit dieser Art an. Im Jahre 1872
gelangte das Stück aus dem Kaiserlichen Münz-
und Antikenkabinett in das Kunsthistorische
Museum in Wien. Es scheint weder im In-
ventar des Münz- und Antikenkabinetts von
1821 noch im Buch der Neuerwerbungen dieser
Sammlung von 1821-1852 auf. Eduard
Freiherr von Sacken5 erwähnt es erstmals im
Jahre 1852 im Zusammenhang mit der Samm-
lung. Es ist möglich, daß es sich vor 1852
in den Kaiserlichen Sammlungen befand. Die
Existenz einer Porzellankopie aus der ka
liehen Manufaktur deutet jedenfalls s
darauf hin.
Kurz vor der Herstellung der Porzcllank
hatte der kaiserliche Staat die Wiener
zellanmanufaktur von Claudius Innocentiu
Paquier übernommen, jenem privaten U1
nehmer, der 1718 ein Patent für die Porze
erzeugung ervaorben und die Geschicke
Fabrik bis zur Übernahme im Jahre
geleitet hatte. In den ersten Jahren der M
faktur du Paquiers wurden einige bemerk
werte Groteskrnodelle für Teekannen
Drachenhenkeln, schlangenförmigen Aus
sen usw. erzeugt. Später produzierte du Pan
auch merkwürdige Stücke wie Terrinei
Schildkrötenform, mit einem reitenden
nesen als Deckelknaufß. Im Gegensatz
Meißen wurden jedoch in Wien nie wirk
Anstrengungen unternommen, um die pl
schcn hiöglichkeiten des Materials a1
nützen, bis 1744 der Staat die Leitung i
nahm7. Von diesem Zeitpunkt an wurdr
Modellierkunst ideenreichcr, und als dan
Jahre 1747 ein ehemaliger Lehrer der Akad
der bildenden Künste, Johann Joseph Nit